Internationale Komunistische Partei Das invariante und einheitliche werk der partei

 

Kommunistische Internationale
5. Kongress, 2. Juli 1924
 

Zweiter Bericht zum Faschismus

 

Über den Faschismus habe ich, wie ihr wisst, auf dem IV. Kongress, an einem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte des Faschismus in Italien, Bericht erstattet (1). Es war der Vorabend seiner Machtergreifung, als unsere Delegation aus Italien abreiste.

Heute soll ich zum zweiten Mal über dieses Thema sprechen; wiederum an einem für die Entwicklung des Faschismus entscheidenden, auf den Fall Matteotti zurückgehenden Wendepunkt (2). Der Zufall hat gewollt, dass auch dieses Ereignis unmittelbar nach der Abreise der italienischen Delegation zum V. Kongress stattfand. Beide Berichte fallen also in eine Zeit, die geeignet ist, sich das in sozialer und politischer Hinsicht äußerst wichtige Phänomen des Faschismus näher anzusehen.

Ich werde natürlich nicht all das wiederholen, was ich schon in meinem ersten Bericht zum historischen Verlauf des Faschismus ausgeführt habe, denn es ist auf zu viele andere Punkte einzugehen. Ich will deshalb nur kurz und schematisch die Grundzüge meiner damaligen Kritik des Faschismus in Erinnerung rufen, da das auf dem IV. Kongress Gesagte keineswegs nichtig geworden ist.

Erstens: Das Auftreten des Faschismus. Ich hatte daran erinnert, dass die faschistische Bewegung ihrer historischen Entstehung nach mit einem Teil jener Gruppen in Zusammenhang steht, die Italiens Eintritt in den Weltkrieg forderten. Es gab zahlreiche Gruppierungen, die diese Politik unterstützten. Unter ihnen eine extreme Linke, die sich aus Renegaten des Syndikalismus, des Anarchismus und in einigen Fällen – namentlich im Falle Mussolinis – aus Renegaten der radikalen sozialistischen Linken zusammensetzte. Diese Gruppierung identifizierte sich vollständig mit der Politik des Burgfriedens und der militärischen Intervention gegen die Mittelmächte. Bezeichnenderweise war es diese Gruppe, die den Generalstab des Faschismus in der Nachkriegszeit stellte. Die Zusammenhänge zwischen dieser ersten politischen Formierung und der großen faschistischen Bewegung, der wir uns heute gegenüber sehen, lassen sich lückenlos aufzeigen.

Das Geburtsdatum der klassischen faschistischen Aktion ist der 21. November 1920: Es ist in den damaligen Vorgängen in Bologna (Palazzo d’Accursio) zu suchen. Ich überspringe jedoch diesen Punkt, da es sich dabei um rein historische Feststellungen handelt, und komme zu anderen Dingen.

Die Regierungskrise in Italien hat jemand folgendermaßen charakterisiert: Der Faschismus sei die politische Negation derjenigen Phase, in der eine bürgerlich-liberale und demokratische Linkspolitik bei uns vorherrschte; er sei die schärfste reaktionäre Form gegen die Politik der Zugeständnisse, die Giolitti und andere in der Nachkriegszeit betrieben (3). Wir hingegen sehen zwischen diesen beiden Phasen einen dialektischen Zusammenhang: Die anfängliche Haltung der italienischen Bourgeoisie während der Krise, verursacht durch die Nachkriegszeit, war nichts anderes als der natürliche Wegbereiter des Faschismus. In jener Phase drohte eine Offensive seitens des Proletariats. Die Bourgeoisie war nicht stark genug, einem direkten Angriff die Stirn zu bieten. Sie musste deshalb zu geschickten Manövern greifen, um dem Zusammenprall auszuweichen, und während die links-bürgerlichen Politiker diese Manöver durchführten, konnte der Faschismus seine späteren ungeheuren Machtmittel bereitstellen und die Voraussetzungen für die zweite Periode schaffen, in der er selbst zur Offensive übergehen und den revolutionären Kräften einen vernichtenden Schlag versetzen würde. Ich wiederhole hier nicht all die Argumente, die für diese Auslegung sprechen; auch hier gilt noch all das, was ich auf dem IV. Kongress ausführte.

Zweitens. Höchst charakteristisch ist der von den ländlichen Bezirken aus begonnene Vormarsch des Faschismus. Der Angriff auf die Stellungen der revolutionären Arbeiter wird von den landwirtschaftlichen Regionen aus eingeleitet. Bologna ist ein agrarisches Zentrum, die Hauptstadt eines großen ländlichen Gebietes: der Po-Ebene, und von dort aus breitete sich der Faschismus nach verschiedenen Richtungen hin aus und trat seinen Siegeszug durch ganz Italien an. In unserem ersten Bericht haben wir den territorialen Vormarsch des Faschismus geschildert. Hier genügt es, daran zu erinnern, dass der Faschismus die Industriezentren und die Großstädte erst später angriff. Doch auch wenn die faschistischen Aktionen in nicht-industriellen Regionen beginnen, darf daraus nicht der Schluss gezogen werden, die faschistische Bewegung diene ausschließlich den Interessen der Agrarier. Ganz im Gegenteil: Hinter der Bewegung stehen auch die Interessen der Großindustrie, des Großhandels und der Hochfinanz; es ist der Versuch eines geschlossenen konter-revolutionären Vorstoßes aller bürgerlichen Kräfte. Auch diese These halte ich aufrecht. Ich werde im Laufe des Berichtes noch mehrmals darauf zurückkommen.

Hinzu kommt, drittens, die Mobilisierung des Mittelstandes. Auf den ersten Blick erweckt der Faschismus seinem äußeren Anschein nach den Eindruck, nicht eine Bewegung der erwähnten sozialen Oberschichten, der Großgrundbesitzer und der kapitalistischen Großbourgeoisie zu sein, sondern eine der Mittelschichten, der Soldaten, der Intellektuellen sowie all jener Schichten, die das Proletariat noch nicht an sich zu ziehen und unter der Parole der revolutionären Diktatur um sich zu sammeln vermocht hat. Innerhalb dieser Schichten ist eine immense ideologische, politische und organisatorische Mobilisierung vor sich gegangen, ihre Unruhe und Unzufriedenheit ist in organisierte Bahnen gelenkt worden. Man sagte ihnen: Ihr seid die dritte Klasse, die das Kampffeld betritt, das heißt, eine neue Kraft, die sich gegen das Proletariat ebenso aber auch gegen die alte Bourgeoisie und ihre traditionellen Politiker richtet; während der Krise der Nachkriegszeit hat es das Proletariat nicht geschafft, seine revolutionäre Politik zu verwirklichen und die Macht zu ergreifen, die die alte herrschende Klasse nicht mehr zu halten imstande war; jetzt greift eine dritte Klasse in den Kampf ein – diesen Anschein will der Faschismus erwecken. Tatsächlich aber geht es darum, auf Initiative und unter Führung der konservativen Kräfte der Großbourgeoisie und mit Unterstützung des Staatsapparates die Mittelschichten in Bewegung zu setzen. Daher das doppelte Gesicht des Faschismus: Zunächst geht es um die Verteidigung großbürgerlicher Interessen, d.h. der Interessen der Oberklasse, und weiter um eine Mobilisierung der Mittelschichten und des Kleinbürgertums, d.h. wichtiger sozialer Kräfte zur Verteidigung jener Interessen.

In meinem ersten Bericht habe ich die Ideologie des Faschismus einer Kritik unterzogen. Die Frage war, welche Theorie dieser Bewegung zugrunde liegt. Heute ist es ein Gemeinplatz, dass der Faschismus keine Theorie besitzt, er hat nichts hervorgebracht, um die Grundzüge einer neuen politischen Theorie zu zeichnen. Er behauptet, eine Revolution durchgeführt, dem sozialen und politischen Kampf eine neue Gestalt gegeben zu haben. Tatsächlich aber hat er vom theoretischen Standpunkt aus nichts geschaffen, was als positive Basis für das Programm dieser Revolution, dieser angeblichen Erneuerung der italienischen Gesellschaft an Haupt und Gliedern – und wie Mussolini sagt, vielleicht morgen auch der Gesellschaft anderer Länder – dienen könnte. Anfangs besaß der Faschismus ein Programm, das den Programmen der extremen Linken einige Punkte entlehnte, es sollte jedoch nur die schon erwähnte Mobilisierung vorantreiben; sobald der Faschismus ans Ruder gelangt war, wurde es schnell vergessen, ja, in sein direktes Gegenteil verkehrt; es löste sich sofort in Luft auf.

Der Faschismus ist keine revolutionäre Bewegung; wir haben es mit einer rein konservativen Bewegung zur Wahrung der bestehenden bürgerlichen Ordnung zu tun, er bringt keinerlei neues Programm. Wohl aber bringt er etwas Neues, sobald wir vom ideologischen auf die organisatorische Ebene übergehen. Dann sehen wir sofort, dass hier etwas in Erscheinung tritt, das bisher weder bei der Bourgeoisie Italiens noch der der anderen Länder aufgetaucht ist. Die Politik der italienischen Bourgeoisie war immer dadurch charakterisiert, zwar über große politische Führer, Berufspolitiker, bedeutende Parlamentarier, denen bei Wahlen eine große Anhängerschaft sicher war, zu verfügen und eine große liberale Partei hinter sich zu haben, allerdings mangelte es ihr an Organisationsvermögen. Die liberale Partei konnte sich auf eine klare, konkrete Theorie beziehen; sie besaß echte historische Traditionen und eine vom bürgerlichen Standpunkt aus völlig ausreichende Ideologie, aber eben keine Organisation. Diese Sachlage ist vom Faschismus umgekehrt worden. Ideologisch bringt er nichts Neues (wir werden gleich sehen, was seine Kritik der Ideologie der alten bürgerlichen Parteien wert ist), aber er führt einen neuen Faktor ins Feld, an dem es den alten Parteien vollständig gebrach: einen mächtigen, sowohl politisch wie auch militärisch organisierten Kampfapparat.

In der aktuellen schweren kapitalistischen Krise reicht offenbar der Staatsapparat zur Verteidigung der Bourgeoisie nicht mehr aus. Dieser Apparat muss durch eine gut organisierte Partei ergänzt werden, die landesweit aktiv ist und innerhalb des Mittelstandes Stützpunkte zu finden sucht, sich vielleicht sogar bestimmten Schichten der Arbeiterklasse nähert. Nur wenn die nicht-bürgerlicher Klassen in Bewegung gesetzt werden, kann die Bourgeoisie im Verlaufe dieser Krise der drohenden Revolution die Stirne bieten.

Was charakterisiert das Verhältnis zwischen Faschismus und Arbeiterschaft? Der Faschismus ist seiner Natur nach eine antisozialistische, somit antiproletarische Bewegung. Dennoch darf er nicht automatisch mit der früheren äußersten Rechten, deren Belagerungszuständen, deren Terror, deren Ausnahmegesetzen und deren Verbot der revolutionären Organisationen, gleichgesetzt werden. Der Faschismus geht darüber hinaus, er ist eine modernere, hoch entwickelte Bewegung, die vom ersten Moment an selbst die kleinsten Errungenschaften der Arbeiterklasse zerstört, zugleich aber auch unter den Arbeitermassen Einfluss zu gewinnen versucht. Sie bemächtigt sich deshalb ohne viel Federlesens der Grundsätze der gewerkschaftlichen Organisation und baut wirtschaftliche Organisationen der Arbeiterschaft auf.

Natürlich sind diese Gewerkschaften nicht mit den freien Gewerkschaften gleichzusetzen. Allerdings muss meiner Ansicht nach festgestellt werden, dass das Bestehen faschistischer Gewerkschaften ein gewichtiges Argument gegen den revolutionären Syndikalismus ist, der die wirtschaftliche Organisation für die entscheidende Waffe des Klassenkampfes hält. Die Ereignisse zeigen, wie diese Waffe sehr wohl zu konter-revolutionären Zwecken ausgebeutet werden kann.

Selbstverständlich unterscheidet sich die faschistische Gewerkschaftsbewegung von der eigentlichen Gewerkschaftsbewegung durch einen sehr charakteristischen Zug, nämlich dadurch, sich nicht nur aus der Arbeiterklasse, sondern aus allen Klassen zu rekrutieren, da es sich tatsächlich um eine Organisationsform auf der Grundlage des Berufsstandes handelt. Anvisiert werden Parallelorganisationen der Arbeiter und der Arbeitgeber auf Basis der Klassenkollaboration.

Damit sind wir an einen Punkt angelangt, an dem Faschismus und Demokratie zusammentreffen. Der Faschismus wiederholt im Grunde genommen nur das alte Spiel der bürgerlichen Linksparteien und der Sozialdemokratie, d.h. er ruft die Arbeiter zum Burgfrieden auf. Dieses Ziel soll durch Bildung von Industrie- und Landarbeitergewerkschaften erreicht werden, um dann deren praktische Zusammenarbeit mit den Unternehmerorganisationen anzubahnen. Natürlich ist der einzige Zweck dieser ganzen Übung die Zerschlagung der revolutionären Organisationen und die Unterwerfung der Arbeitermassen unter die kapitalistische Ausbeutung. Dennoch präsentiert sich der Faschismus der besitzenden Oberschicht nicht als brutales System zur Unterdrückung der Arbeiterschaft; im Gegenteil, um als Organisation aller produktiven Kräfte des Landes anerkannt zu werden, dringt er im Namen des „nationalen Interesses“ auf eine Zusammenarbeit aller wirtschaftlichen Gruppen.

Natürlich bedient man sich bei all dem der nationalistischen, der patriotischen Ideologie. Das ist beileibe nicht brandneu. Schon während des Krieges wurde im nationalen Interesse von der Parole der Hintanstellung aller Einzelinteressen gegenüber dem Volksinteresse ausgiebig Gebrauch gemacht. Der Faschismus nimmt also das alte Programm der bürgerlichen Politik wieder auf, doch erscheint es in einer Form, die in gewisser Hinsicht das Programm der Sozialdemokratie echot und andererseits doch etwas Neues enthält – nämlich eine gewaltige politische und militärische, im Dienste der konservativen Mächte stehende Organisation.

Die in meiner Rede auf dem IV. Kongress gezogene Schlussfolgerung war, dass die Grundlage des faschistischen Programms selbst bereits einen fundamentalen historischen und gesellschaftlichen Widerspruch aufweist. Der Faschismus möchte alle wirtschaftlichen und sozialen Konflikte innerhalb der Gesellschaft aussöhnen und zum Schweigen bringen. Aber das ist nur der äußere Schein. Tatsächlich versucht er, die Einheit innerhalb der Bourgeoisie herzustellen, eine Koalition zwischen den besitzenden Oberschichten zu realisieren, indem er die Interessenskonflikte zwischen den verschiedenen Bourgeoisie- und kapitalistischen Unternehmensfraktionen ausgleicht.

Auf wirtschaftlichem Gebiet bewegt sich der Faschismus vollständig auf den alten Gleisen des bürgerlichen Liberalismus: Er lehnt jeden Staatsinterventionismus ab, predigt die unbeschränkte Handlungsfreiheit der Betriebe, fordert das freie Spiel der Marktkräfte. Dadurch verwickelt er sich in einen unerbittlichen Widerspruch, denn es ist außerordentlich schwierig, eine einheitliche Politik der bürgerlichen Klasse durchzusetzen, solange die wirtschaftlichen Organisationen vollständige Bewegungsfreiheit haben und die freie Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmergruppen besteht. Wir ziehen daraus den Schluss, dass der Faschismus infolge der wirtschaftlichen Anarchie des Kapitalismus zum Scheitern verurteilt ist, obwohl er die Zügel der Regierung fest in die Hand genommen hat, obwohl er über die mächtige Waffe des Staatsapparates verfügt und sich auf eine flächendeckende Organisation stützt, die den Mittelstand, bis zu einem gewissen Grade sogar die Arbeiter, für die Interessen der gesamten Bourgeoisie mobilisiert. Der gewaltige Apparat des Faschismus erweckt den Eindruck, seine Macht sei von Dauer. Doch kranken die Grundlagen dieser Macht selbst an einem fundamentalen Widerspruch, denn der Faschismus hat keinerlei neue Mittel und Wege zur Überwindung der Krise des Kapitalismus finden können.

Wir sind nach wie vor der Überzeugung, dass die kapitalistische Krise nicht durch irgendwelche „Heldentaten“ überwunden werden kann. Ich habe hier die grundlegenden Begriffe aus meinem ersten Bericht zur Analyse des Faschismus wiederholt; die Schlussfolgerungen sind die gleichen, sie sind in den nahezu zwei Jahren faschistischer Diktatur voll und ganz bestätigt worden.

 

* * *

 

Kommen wir jetzt auf die geschichtliche Phase zurück, in der wir uns auf dem IV. Kongress befanden, als die Faschisten die Macht übernahmen: der Marsch auf Rom, der Abschluss des allgemeinen Angriffs auf die revolutionären Kräfte sowie die alten politischen Machthaber Italiens. In jenem Bericht hatte ich die strittige Frage noch nicht angesprochen, die während des IV. Kongresses aufgetaucht war; Genosse Sinowjew erwähnte sie jedoch in seiner Rede: Was geschah während unserer Abwesenheit in Italien? Gab es einen Staatsstreich oder war es eine Komödie? Ich will auf diese Frage kurz eingehen. Meiner Ansicht nach sind es sogar drei Fragen: War es eine Revolution, ein Staatsstreich oder eine Komödie?

Rufen wir uns die Tatsachen in Erinnerung, die ihre Machteroberung kennzeichneten. Es gab keine bewaffnete Auseinandersetzung, nur eine faschistische Mobilisierung, mit der Drohung, die Macht revolutionär zu erobern, und eine Art defensiver Mobilisierung des Staates, der in einem bestimmten Augenblick sogar den Ausnahmezustand ausrief. Aber er leistete keinen Widerstand. Es kam zu keiner militärischen Auseinandersetzung. Stattdessen gab es ein Agreement, und in einem bestimmten Moment wurde der Kampf sozusagen vertagt, aufgeschoben, nicht, weil der König sich im gegebenen Moment geweigert hätte, das Dekret über den Belagerungszustand zu unterzeichnen, sondern offensichtlich, weil das Übereinkommen schon seit langem vorbereitet worden war. Die faschistische Regierung hat sich dann auf dem üblichen Weg gebildet: Nach dem Rücktritt des Kabinetts Facta berief der König Mussolini, um ein neues Ministerium zu bilden. Der Führer dieser sogenannten Revolution kam im Schlafwagen von Mailand nach Rom und wurde unterwegs auf allen Bahnhöfen von Staatsvertretern begrüßt.

Von einer Revolution kann also keine Rede sein, nicht nur, weil keine Insurrektion stattfand, sondern auch auf Grund all dessen, was wir über die historische Rolle des Faschismus ausgeführt haben. Wir haben gesellschaftlich gesehen keinen Umsturz vor uns; der Faschismus besitzt kein neues Programm, er negiert auch nicht die alte bürgerliche Regierungspolitik; er ist lediglich die vollkommen logische und dialektische Fortsetzung der vorhergehenden Phase der bürgerlichen, sogenannten demokratischen und liberalen Politik. Wir verneinen entschieden die x-mal wiederholte Behauptung der Faschisten, es habe sich bei ihrer Machtübernahme um eine Revolution gehandelt; wie Mussolini es in seinen Reden erklärt: Wir haben eine Revolution gemacht. Wenn unsere Presse jedoch dagegenhält: Wir haben keine Revolution, keinen Kampf, keinen revolutionärer Terror gesehen, denn es gab keine wirkliche „Machtergreifung“ und keine wirkliche Ausschaltung des Gegners, so antwortet Mussolini mit einem geschichtlich ziemlich lächerlichen Argument: Dazu bleibt uns immer noch Zeit, wir können die Revolution jederzeit vollenden. Aber die Revolution kann man nicht „auf Eis legen“, nicht einmal der kühnste und mächtigste politische Führer vermag das. Mit derartigen Argumenten kann der Widerlegung, dass sich keine Revolution ereignet hätte, kaum begegnet werden. Man kann nicht sagen: Diese Dinge sind zwar nicht eingetreten, aber das lässt sich jederzeit ändern. Natürlich können neue Kämpfe immer ausbrechen. Der Marsch auf Rom war jedoch kein Kampf, keine Revolution. Und wenn es heißt: Es hat immerhin einen ungewöhnlichen Machtwechsel, einen Staatsstreich, gegeben, muss man darauf nicht näher eingehen, denn dies ist nur Wortklauberei. Und mit dem Wort „Staatsstreich“ bezeichnen wir schließlich einen Regierungswechsel, der sich nicht lediglich auf einen Führungswechsel, eine Ablösung des machthabenden Generalstabs beschränkt, sondern eine Aktion ist, die gewaltsam den bisherigen politischen Kurs beseitigt. Und das hat der Faschismus nicht getan. Er hat viele Reden gegen den Parlamentarismus gehalten, seine Theorie war antidemokratisch und antiparlamentarisch. Im Ganzen jedoch war sein soziales Programm nichts anderes als das alte Programm der demokratischen Lügen, das nur eine ideologische Waffe zur Herrschaftssicherung der Bourgeoisie ist.

Der Faschismus hat sich sehr schnell – noch vor seiner Machtübernahme – auf die „parlamentarische Etikette“ besonnen; er hat anderthalb Jahre lang regiert, ohne das alte Parlament aufzulösen, das sich in seiner großen Mehrheit aus Nicht-Faschisten, sogar aus Antifaschisten zusammensetzte. Mit der für die bürgerlichen Politiker charakteristischen Flexibilität hat dieses Parlament sich beeilt, Mussolinis Position zu legalisieren und ihm all jene Vertrauensvoten zu bewilligen, nach denen er verlangte. Sogar das erste Kabinett Mussolini – er selbst kommt in seinen „linken Reden“ immer wieder darauf zurück – setzte sich nicht allein aus Faschisten zusammen, sondern berief Vertreter der wichtigsten anderen bürgerlichen Parteien. In diesem Kabinett saßen anfangs Mitglieder der Partei Giolittis, der katholischen Partei, der demokratischen Linken. Das also hat der sogenannte Staatsstreich zuwege gebracht: eine Regierungskoalition! Eine Partei, die im Parlament 35 Abgeordnete sitzen hatte, übernahm die Macht und besetzte die meisten Minister- und Staatssekretärsposten.

Allerdings muss auf ein geschichtliches Ereignis hingewiesen werden, zu dem es jedoch nicht beim Marsch auf Rom kam. Ich spreche von der Besetzung ganz Italiens durch die Faschisten, die diesen Ablauf vorbereitet hatten und der sich mit dem Finger auf der Landkarte verfolgen lässt. Mit der Übernahme der Regierung durch Mussolini wurde nur ein schon zuvor bestehendes Kräfteverhältnis anerkannt. Jede zuvor an die Macht gekommene Regierung, besonders die unter Facta, hatte dem Faschismus freie Hand gelassen. Facta war es, der Italien beherrschte; er verfügte über den Staatsapparat und konnte machen, was er wollte. Das Kabinett Facta blieb nur für zwei Monate am Ruder, als Steigbügelhalter für den Faschismus, der das Staatsruder im für ihn passenden Augenblick übernahm.

Aus diesen Gründen haben wir den Begriff „Komödie“ benutzt. Doch wie auch immer: Von einer Revolution kann jedenfalls keine Rede sein. Die bürgerlichen Politiker wurden zwar ausgewechselt, aber das war arrangiert und geschah nach und nach; weder auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet noch auf dem der Innenpolitik bedeutete dies irgendeine Änderung im Programm der italienischen Bourgeoisie. Die große Schlagkraft der sogenannten faschistischen Revolution beruht in der Tat nicht – weder vor noch nach dem Marsch auf Rom – auf dem offiziellen Einsatz des Staatsapparates, sondern auf der illegalen Reaktion, auch wenn Polizei, Stadtverwaltung, Bürokratie und Armee unter der Hand Beihilfe leisteten. Diese stillschweigende Mitwirkung stand jedoch, das muss klar gesagt werden, schon vor der Machtübernahme des Faschismus außer Frage.

In seiner ersten Parlamentsrede führte Mussolini aus: „Ich habe die Macht, euch mit Hilfe meiner Truppen aus diesem Saale zu vertreiben. Ich habe die Macht, das zu tun, aber ich tue es nicht. Die Abgeordnetenkammer kann weiter ihres Amtes walten, wenn sie bereit ist, mit mir zusammenzuarbeiten.“ Die übergroße Mehrheit des alten Parlaments beugte sich willig dem neuen Führer.

Nach der Machtübernahme des Faschismus hat es in der Tat keine neue Legislative gegeben. Innenpolitisch wurden keine Ausnahmegesetze in Kraft gesetzt. Natürlich gab es politische Verfolgungen, von denen noch zu reden sein wird, aber offiziell sind die Gesetze nicht geändert, sind keine Ausnahmedekrete erlassen worden, wie es in revolutionären Situationen andere bürgerliche Regierungen taten, z.B. unter Crispi und Pelloux, die zeitweilig ihr Heil in der Politik des Belagerungszustandes, der Militärgerichtsbarkeit und der Unterdrückungsmaßnahmen gegen die revolutionären Parteien sowie deren Führer suchten (4).

Der Faschismus indes benutzt gegen die proletarischen Kräfte weiterhin dieselbe moderne Methode, derer er sich auch vor der Machtübernahme bedient hatte. Ja, er erklärte sogar, seine illegalen Sturmtruppen aufzulösen, sobald andere Parteien desgleichen getan hätten. Die faschistischen Kampfbünde sind als außerhalb des Staates stehende Organisationen tatsächlich verschwunden, aber nur, um als „Nationale Miliz“ wieder in den Staatsapparat eingegliedert zu werden. Nach wie vor steht diese bewaffnete Macht der faschistischen Partei und auch Mussolini persönlich zur Verfügung. Sie stellt eine neue, offiziell in den Staatsapparat aufgenommene Organisation dar und ist die Säule, auf der der Faschismus ruht. Und nach wie vor steht die Frage auf der Tagesordnung, ob diese Organisation in der Versenkung verschwinden soll oder nicht? Kann man vom Faschismus erwarten, dass er sich in der Innenpolitik verfassungsmäßiger Mittel statt dieses neuen Organs bedient? Selbstverständlich hat der Faschismus bisher die alten verfassungsrechtlichen Normen nicht anerkannt, und bis heute ist die Nationale Miliz der am meisten gefürchtete Gegner all derer, die die faschistische Macht stürzen wollen.

Rein rechtlich gesehen haben wir keine Ausnahmegesetze. Als im Februar 1923 Tausende von Kommunisten in Italien verhaftet wurden, dachte man, der Faschismus werde eine Prozesslawine gegen uns ins Rollen bringen, entschiedene Maßnahmen ergreifen und harte Urteile verkünden lassen. Aber die Situation wurde nicht brenzlig und wir wurden nach den alten, demokratischen Gesetzen abgeurteilt. Das italienische Strafgesetzbuch ist das Werk des Vertreters der äußersten bürgerlichen Linken, des Ministers Zanardelli (5), es ist höchst liberal und lässt großen Spielraum; vor allem, was politische Vergehen und Gesinnung angehen, ist es moderat und dehnbar. Es war deshalb leicht, uns auf folgenden Standpunkt zu stellen: „Wir würden es gut verstehen, wenn der Faschismus sich seiner Gegner entledigte und diktatorische Maßnahmen gegen uns ergriffe. Er ist vollkommen im Recht, wenn er über uns richtet und uns verurteilt, weil wir Kommunisten sind und unser Ziel der Sturz der bestehenden Regierung durch den revolutionären Kampf ist; unter juristischem Gesichtspunkt aber ist das, was wir tun, nicht verboten. Es gibt zwar andere Verbote, aber ihr habt keinerlei Beweise für eine angebliche Verschwörung, für Straftaten einer mutmaßlichen Vereinigung, auf die sich die Anklage stützt.“ Wir haben diesen Standpunkt nicht nur aufrechterhalten, sondern sind dank dessen sogar freigesprochen worden, denn es war völlig unmöglich, uns auf Grundlage der geltenden Gesetze zu verurteilen.

Damals konnten wir feststellen, dass der Justiz- und Polizeiapparat vom Standpunkt des Faschismus aus seiner Aufgabe in keiner Weise gewachsen war. Der Faschismus übernahm den Staatsapparat, hat ihn aber nicht für seine Zwecke umzubilden verstanden. Seine Absicht war nicht, auf juristischem Wege mit den kommunistischen Führern fertig zu werden. Er hatte seine Sturmtruppen, seine terroristischen Organisationen, und er glaubte, auf rechtlichem Gebiet keine neuen Waffen einsetzen zu müssen. Das zeigt meiner Ansicht nach noch einmal, dass die bürgerlich-liberalen Garantien und die liberale Justiz völlig unzureichend sind, um das Proletariat in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken. Es stimmt, dass sich unter diesen Umständen auch unsere Verteidigung auf die Gesetze beziehen musste, wenn sich jedoch der Gegner im Besitz einer illegalen Organisation befindet, durch die er die Sache ganz anders „regeln“ könnte, dann verlieren die demokratischen Garantien für ihn natürlich jede Bedeutung.

Der Faschismus verzichtet nicht auf die alte Politik der demokratischen Lügen, der Gleichheit vor dem Gesetz usw. Was nicht heißt, dass er die Arbeiter nicht verfolgen würde. Es soll nur heißen, dass die neue vom Faschismus geschaffene Situation hinsichtlich der politischen Prozesse, durch die man die Führer der revolutionären Arbeiterschaft erledigen wollte, am alten klassischen System der bürgerlich-demokratischen Regierungen nichts geändert hat. Eine Revolution hingegen hat immer eine Neubildung der politischen Gesetze zur Folge.

Ich will mich nun kurz den Ereignissen nach der Machtübernahme des Faschismus zuwenden.

Zunächst einige Worte zur Wirtschaftslage in Italien. Die Faschisten wiederholen dauernd, seitdem sie an der Macht seien, habe die Wirtschaftskrise der Jahre 1920 und 1921 einem Aufschwung Platz gemacht. Sie behaupten, die Lage habe sich seit zwei Jahren stabilisiert, das wirtschaftliche Gleichgewicht und die Wirtschaftsordnung seien wiederhergestellt, überhaupt sei die ganze Lage viel besser. Das seien die Vorteile, die der Faschismus allen gesellschaftlichen Klassen biete, die Wohltaten, die das ganze italienische Volk dem Faschismus verdanke. Diese offizielle Behauptung wird durch eine großangelegte Kampagne der gesamten Presse und durch Anwendung aller Mittel, die einer fest im Sattel sitzenden Partei zur Verfügung stehen, gestützt. Aber es ist nur die Fassade. Die Wirtschaftslage ist gegenwärtig sehr schlecht. Der Kurs der Lira ist auf den tiefsten Stand der ganzen Nachkriegszeit gesunken: sie ist nur 4,3 amerikanische Cent wert, womit die Talsohle der bisherigen Währungsschwankungen erreicht ist. Der Faschismus hat nicht vermocht, die Situation zu verbessern. Mussolini sagt freilich, ohne ihn wäre der Kurs der Lira noch tiefer – kein besonders starkes Argument ... Die Faschisten behaupten ferner, den Staatshaushalt ausgeglichen zu haben. Was insofern stimmt, wie mit den Staatshaushalten alles Mögliche bewiesen werden kann.

Jedenfalls haben die Faschisten die Meinung der Fachleute aus der Opposition nicht dementiert, wonach das Defizit heute noch größer sein würde als 1920 und 1921, wenn es bei der Kohle keinen Preisrückgang im Vergleich zu 1920/21 gegeben hätte und die Kriegskosten, die innerhalb eines gewissen Zeitraumes getilgt werden müssen, nicht mit buchhalterischen Tricks versteckt worden wären – was sich anhand der Zahlen leicht nachweisen lässt.

Was die ökonomischen Kennzahlen betrifft, sieht es heute noch schlechter aus. Die Arbeitslosigkeit ist zwar nicht mehr so hoch wie in den Jahren 1920 und vor allem 1921, aber die letzten Monate zeigen, dass sie wieder zunimmt und die Krise in der Industrie noch nicht überwunden ist. Die Geschäftslage ist äußerst angespannt; der Handel stößt auf große Schwierigkeiten. Die Statistik der Konkurse, die eine gewaltige Zunahme im Vergleich zu den letzten Jahren aufweist, belegt dies. Auch die Lebenshaltungskosten in den Großstädten steigen. Die ganze Wirtschaftslage verschlechtert sich zusehends; sie ist bei weitem nicht stabilisiert. Das was der Faschismus durch den enormen Druck, den die Bourgeoisie ausübt, hervorgebracht hat, ist nur eine Scheinstabilität. Die offiziellen Indexziffern zeigen, dass alles, was erreicht wurde, nur Ausdruck dieses furchtbaren, auf das Proletariat ausgeübten Drucks ist; dass all das nur auf Kosten der Arbeiter und im Interesse der herrschenden Klasse erzielt wurde. Und man muss sich vor Augen halten, dass eben dieser unerbittliche Druck eine Explosion aufseiten jener Klassen voraussehen lässt, die dem Versuch der Faschisten zur Wiederherstellung der Wirtschaftslage im alleinigen Interesse der Großbourgeoisie zum Opfer fallen.

Ich komme jetzt zur Haltung der faschistischen Regierung gegenüber der Arbeiterschaft. Ich habe bereits ausgeführt, dass die großen, gegen uns anhängig gemachten politischen Prozesse aufzeigten, wie wenig effektiv der Justizapparat des faschistischen Staates ist. Doch das Proletariat war natürlich schweren Verfolgungen ausgesetzt, sobald sich die Möglichkeit bot, unsere Genossen nicht eines laut Strafgesetzbuch „politischen“, sondern „gemeinen“ Verbrechens anzuklagen. Es kam und kommt immer noch zu zahlreichen Zusammenstößen zwischen Faschisten und Arbeitern, vor allem Kommunisten; wobei es normalerweise Tote und Verletzte auf beiden Seiten gibt. Bekanntlich gingen noch lange Zeit nach der Machteroberung die Faschisten, die Arbeiter getötet hatten, völlig straffrei aus, selbst wenn die Beweislast erdrückend war. Die Arbeiter dagegen, die in Notwehr Faschisten verwundeten oder töteten, bekamen Höchststrafen. Die erlassene Amnestie kommt nur jenen zugute, die für nationale Ziele Straftaten begingen, mit anderen Worten, den faschistischen Mördern, während diejenigen Straftäter, die antinationale Zwecke verfolgen, d.h. die gegen den Faschismus kämpfen, hohe Haftstrafen zu erwarten haben. Es ist eine reine Klassenamnestie.

Eine weitere Amnestie sieht Strafmilderung für Urteile vor, die auf zwei bis drei Jahre Haft lauten; doch sind unsere Genossen, das muss man wissen, zu zehn, fünfzehn und zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden. Hunderte von Arbeitern, von italienischen Genossen, sitzen heute im Knast, weil sie nach bewaffneten Zusammenstößen, die fast immer von den Faschisten provoziert wurden, nicht rechtzeitig über die Grenze kamen. Die italienische Regierung setzt die Arbeiterklasse so der grausamsten Verfolgung aus. Die Arbeiter können nicht einmal den Versuch machen, sich gegen den faschistischen Terror zu wehren, ohne dass sofort die Justiz auf dem Plan tritt, und zwar in einer Art und Weise, die den klassischen politischen Prozess wegen „Landesverrats“ unterläuft. De jure bleiben alle Garantien für die Existenz der Kommunistischen Partei, der anarchistischen Bewegung usw. erhalten. Papier ist eben geduldig.

Ähnlich mit der Presse. Offiziell ist die Pressefreiheit garantiert. Alle Parteien sind berechtigt, ihre Organe herauszugeben. Doch können die Polizeipräsidenten die Herausgabe einer Zeitung unterbinden, auch wenn keine rechtliche Handhabe existiert. Bisher sind sie nur gegen kommunistische Zeitungen vorgegangen. Unsere Tageszeitung „Il Lavoratore“ in Triest ist auf Grund eines österreichischen Gesetzes, das dort noch in Kraft ist, verboten worden. So werden die alten österreichischen Gesetze gegen die Revolutionäre angewendet, d.h. gegen diejenigen, die während des Krieges auf Grund ihres „Defätismus“ als Komplizen Österreichs bezeichnet wurden. Hinzu kommt die alte Schiene, das Erscheinen der Zeitungen durch bewaffnete Banden zu verhindern, die Redaktionen auseinanderzujagen usw., womit der Arbeiterpresse das Erscheinen unmöglich gemacht wird; ferner die Sabotage des Pressevertriebs usw. Bis zum heutigen Tag werden unsere Zeitungen ebenso wie andere Organe der Opposition häufig vernichtet oder verbrannt, wenn sie ihren Bestimmungsort erreichen.

Auch auf die Gewerkschaften übt die faschistische Regierung schweren Druck aus. Die Arbeiter werden mit Gewalt in die faschistischen Gewerkschaften hineingezwungen. Die Gewerkschaftshäuser der roten Verbände wurden zerstört. Dennoch gelang es nicht, die Massen in den faschistischen Wirtschaftsorganisationen zusammenzufassen. Mit den diesbezüglichen Zahlen bluffen die Faschisten nur. In Wirklichkeit sind die Arbeiter heute gewerkschaftlich unorganisiert. Zuweilen treten die Massen den faschistischen Gewerkschaften bei, doch nur, weil das die einzige Möglichkeit ist, überhaupt streiken zu können. Gewisse Arbeiter, gewisse Berufszweige, die in ihrer großen Mehrheit keine Anhänger der faschistischen Gewerkschaften sind und bei den Betriebswahlen zum größten Teil gegen die Faschisten und für die revolutionären Kandidaten stimmen, sehen sich gezwungen, den faschistischen Verbänden beizutreten, um dort zu versuchen, gegen die Bourgeoisie zu kämpfen. Daraus ergibt sich innerhalb der faschistischen Gewerkschaftsbewegung ein schwerer Konflikt. Sie kann Streiks nicht verhindern und wird in den Kampf gegen die Unternehmerorganisationen hineingezogen. Dieser Konflikt wird innerhalb der faschistischen und der Regierungsorgane immer auf dem Rücken der Arbeiter gelöst. Daher die Unzufriedenheit, die schwere Krise, die die Führer der faschistischen Gewerkschaftsbewegung in den Versammlungen der letzten Zeit nicht mehr weg reden konnten. Ihre Versuche zur Organisierung der Industriearbeiter waren völlig erfolglos, ihr Handeln soll einen – übrigens überflüssigen – Vorwand schaffen, um die Tätigkeit der freien Gewerkschaften zu hemmen und die Arbeiter im Zustand der Desorganisation zu halten.

Man hat in letzter Zeit sogar zu einer Regierungsmaßnahme gegen die freien Gewerkschaften gegriffen, nämlich die interne Organisations- und Verwaltungsarbeit der Gewerkschaften staatlicherseits zu überwachen. Ein sehr schwerwiegender Schritt, der aber die Lage doch nicht wesentlich ändert, da die Arbeit der freien Gewerkschaften schon aufgrund anderer Maßnahmen nahezu vollständig lahmgelegt war. Die freien Gewerkschaften bestehen weiter, wie auch die Arbeitskammern, die Berufsverbände, etc.; aber es ist völlig unmöglich, ihre aktuelle Mitgliederzahl anzugeben, selbst dort, wo es ihnen gelungen ist, in Verbindung mit den Massen zu bleiben, denn die ordnungsgemäße Fortführung der Beitragseinziehung und der Mitgliederwerbung ist fast völlig unterbunden worden. Es ist bis heute nicht möglich gewesen, das Netz der gewerkschaftlichen Organisationen in Italien wieder aufzubauen.

Für die Bourgeoisie und die Philister der Mittelschicht ist der große Pluspunkt des Faschismus, dass keine Streiks mehr stattfinden. Man sagt, im Jahr 1920, also vor dem Faschismus, waren die Arbeitermassen jeden Tag auf der Straße, einmal streikten sie, dann demonstrierten sie, dann wieder gab es gewaltsame Auseinandersetzungen. Heute gibt es keine Streiks, keine Unruhen mehr. In den Betrieben wird ohne Unterbruch gearbeitet, es herrschen Ruhe und Ordnung. Das ist die Meinung der Unternehmer. Es werden aber doch Streiks ausgerufen, in deren Verlauf es zu bemerkenswerten Vorfällen kam, die aus dem Verhältnis zwischen faschistischen Gewerkschaften, revolutionären Arbeitern, Regierung und Unternehmern resultieren. Die Lage ist durchaus instabil. Der Klassenkampf geht weiter, eine Reihe bedeutsamer Ereignisse belegt das; es steht außer Frage, dass er sich allen Hindernissen zum Trotz weiterentwickeln wird.

Das faschistische Regime geht auch gegen die Arbeiter der Staatsbetriebe vor. So wird z.B. gegen die Eisenbahner regelrechter Terror ausgeübt. Viele wurden auf die Straße geworfen und natürlich hat man sich zuallererst der aktiven Mitglieder der revolutionären Organisationen entledigt; die Organisation der Eisenbahner gehörte zu den am weitesten links stehenden Verbänden. Genauso wurde in einer Reihe anderer Staatsbetriebe vorgegangen.

Die Faschisten sagen nun: Wir haben den Arbeitern jedenfalls den Achtstundentag beschert, er ist gesetzlich verankert! Nennt uns eine andere bürgerliche Regierung, die ein solches Gesetz verabschiedet hätte. Dieses Gesetz enthält jedoch Anwendungsklauseln, die den Grundsatz des Achtstundentages wieder vollständig aushebeln. Es wäre sogar noch bei wortgetreuer Anwendung möglich, die Arbeiterschaft weit länger als die durchschnittlichen acht Stunden arbeiten zu lassen. Im Übrigen wird das Gesetz nicht angewandt. Mit Billigung der faschistischen Gewerkschaften machen die Unternehmer in den Betrieben, was sie wollen. Drittens hatte das Proletariat in Italien den Achtstundentag durch seine Organisationen bereits erobert, ja mehrere Berufsverbände hatten sogar eine noch kürzere Arbeitszeit durchgesetzt. Es handelt sich also ganz und gar nicht um ein „Geschenk“ des Faschismus an das italienische Proletariat. Tatsächlich steigt die Arbeitslosigkeit, weil die Arbeiter gezwungen werden, wesentlich mehr als acht Stunden zu arbeiten. Die anderen „Errungenschaften“ sind nicht der Rede wert. Die Arbeiter, die sich früher gewisse Rechte, eine gewisse Bewegungs- und Agitationsfreiheit in den Betrieben erkämpft hatten, sind jetzt einer eisernen Disziplin unterworfen. Der italienische Arbeiter arbeitet heute unter der Knute.

In Bezug auf die wirtschaftliche Situation belegen alle vorliegenden Zahlen, wie stark die Löhne gedrückt wurden, nachdem sie zeitweise auf einem Niveau standen, das die Verteuerung des Lebensunterhalts, der heute über dem vier- bis fünffachen der Vorkriegszeit liegt, ausglich. Der Lebensstandard der Arbeiter ist heute sehr niedrig. Zwar ist die „Ordnung“ in den Betrieben wiederhergestellt, aber eben eine Ordnung der Reaktion, eine Ordnung des allgemeinen Ausbeutungsbedürfnisses der Unternehmer. Es gibt Beispiele, die eindrucksvoll belegen, dass die ganze faschistische Tätigkeit, einschließlich der ihrer Gewerkschaften, in der Botmäßigkeit des Industrieverbandes steht.

Was den Verband der Seeleute betrifft, so hatte dieser, obwohl (oder gerade weil) von notorischen Opportunisten, wie Giulietti, geleitet, der faschistischen Gewalt bis zu einem gewissen Grade Widerstand leisten und den Marsch auf Rom überstehen können. Neben dieser Organisation bestand eine Genossenschaft der Hafenarbeiter, mit Namen „Garibaldi“, die für den neuen Vertrag, dessen Abschluss zwischen Regierung und Reedern bevorstand, bemerkenswerte Vorschläge zu machen beabsichtigte, was heißt, die großen Reeder hätten es mit ihnen aufnehmen müssen. Sie wären gezwungen gewesen, ihrerseits Angebote zu machen, die ihre Gewinne geschmälert hätten. Was also tun? Die Gruppe der Reeder, der Schiffahrtskönige, gab der faschistischen Regierung entsprechende Anweisungen und die faschistische Regierung ließ sich nicht lange bitten. Unter dem Vorwand eines von den Lokalbehörden provozierten Konfliktes sandte sie Polizeitruppen, die das Büro der Genossenschaft besetzten und die Einstellung ihrer Aktivitäten erzwangen.

Die Lage ist sehr komplex, aber allgemein ist sie durch Folgendes gekennzeichnet. Es ist klar, dass der faschistische Staatsapparat heute im Dienste der kapitalistischen Gruppen steht, die gegen die Arbeiterschaft kämpfen. Das ganze Leben der Arbeiter, das ganze industrielle Leben in Italien bietet heute das schlagendste Beispiel und den klarsten Beweis dafür, dass bei uns die extremste Form einer Regierung besteht, die sich in ein Leitungsorgan, einen Ausschuss zur Verwaltung der gemeinschaftlichen Geschäfte der Kapitalisten entwickelt hat.

Die gleichen Phänomene gibt es bei den Lohnarbeitern auf dem Lande. Als Beispiel will ich den von der faschistischen Gewerkschaft ausgerufenen Streik anführen, den die auf den Reisfeldern arbeitenden Frauen, die sogenannten „Mondine“, im Gebiet von Lomellina durchführten. Dieser Streik wurde mit Genehmigung des faschistischen Verbandes ausgerufen, aber nach Streikbeginn brach der ganze Terror der Reaktion über sie herein: Die streikenden Frauen wurden durch Polizei und Miliz, d.h. durch die Organe der faschistischen Regierung, angegriffen und der Streik im Blut erstickt. Es gibt Hunderte von ähnlichen Beispielen, die ein Bild von der Lage geben, in der sich die italienischen Arbeiter heute befinden. Die faschistische Gewerkschaftspolitik lässt die Arbeiter gewähren, wenn sie Aktionen starten wollen, doch sobald sich der Konflikt zwischen der Arbeiterschaft und den Unternehmern zuspitzt, greift die Regierung im Dienste der kapitalistischen Ausbeutung mit brutaler Gewalt ein.

Wie steht es nun um die Beziehungen des Faschismus zum Mittelstand? Eine Reihe von Fakten liefert den erdrückenden Beweis für die Desillusionierung des Mittelstandes. Anfangs sah er im Faschismus seine eigene politische Bewegung und den Beginn einer neuen geschichtlichen Epoche. Sie glaubten, die Zeit der Herrschaft der Großbourgeoisie und ihrer politischen Führer sei vorbei, ohne dass die proletarische Diktatur, die bolschewistische Revolution, vor der man in den Jahren 1919 und 1920 gezittert hatte, vor der Tür stände; sie glaubten, die Stunde der Herrschaft des Mittelstandes, der Frontsoldaten, derjenigen, die den Krieg gewonnen hatten, habe geschlagen; sie glaubten, eine machtvolle Organisation schaffen zu können, um das Staatsruder in ihre Hände zu bekommen. Sie wollten zur Wahrung ihrer Interessen eine eigene und selbständige Politik sowohl gegen die kapitalistische als auch gegen die proletarische Diktatur betreiben. Das Scheitern dieser Träume zeigen die Maßnahmen der faschistischen Regierung, die nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Mittelschichten hart treffen, die sich vorgestellt hatten, ihre eigene Macht, ihre Diktatur zu errichten und sich sogar zu Demonstrationen gegen den alten bürgerlichen Herrschaftsapparat hinreißen ließen, den sie dank der faschistischen Revolution glaubten gestürzt zu haben. Mit all seinen politischen Maßnahmen zeigt der Faschismus, den Interessen der Großbourgeoisie, des Industrie-, Finanz- und Handelskapitals sowie des Großgrundbesitzes zu dienen und dass sich seine Macht gegen die Interessen aller anderen Klassen, nicht nur des Proletariats, sondern darüber hinaus auch der Mittelklassen richtet.

So trifft z.B. die Wohnungspolitik unterschiedslos alle Klassen. Während des Krieges war ein Moratorium erlassen worden, das den Hausbesitzern einen Riegel bei den Mieterhöhungen vorschob. Die Faschisten haben es kassiert und somit den Hausbesitzern die Erhöhung der Mieten ermöglicht. Nach Wiederherstellung dieser unbegrenzten Handhabe sahen sie sich dann aber doch wieder gezwungen, ein neues Gesetz zu erlassen, das die Rechte der Hausbesitzer wieder einschränkt. Es ist allerdings rein demagogischer Natur. Es soll lediglich den Sturm der Entrüstung, den das erste Gesetz hervorrief, besänftigen. Bis heute ist die Wohnungsnot gravierend. Das Gleiche gilt für die Schulreform, der „am meisten faschistischen aller Reformen“, wie Mussolini es ausdrückt, die der bekannte Philosoph Gentile auf den Weg gebracht hat. Es handelt sich dabei um eine unter praktischem Gesichtspunkt ernst zu nehmende Reform. Auf Grundlage neuer Kriterien wurde eine wirklich bemerkenswerte Arbeit geleistet. Aber die Reform hat eine ganz und gar aristokratische Gerichtetheit: Für die Söhne und Töchter der Arbeiter, der Habenichtse, des Kleinbürgertums ist eine gute Ausbildung unmöglich geworden. Sie bedeutet, dass ausschließlich die Besitzenden, d.h. Familien, die für ihre Kinder das hohe Schulgeld bezahlen können, ein Vorrecht auf Bildung haben. Weshalb die Reform im Mittelstand und im Kleinbürgertum, ja sogar unter den Lehrern und Professoren, die dadurch wirtschaftlich schlechter gestellt sind und einer strengeren Disziplin unterstehen, für großen Missmut gesorgt hat.

Ein weiteres Beispiel: Um die Verwaltung zu reformieren, ist der Faschismus bei den Gehältern der Staatsbeamten nach dem Motto: Herabsetzung der niedrigen Gehälter und Erhöhung der Bezüge der höheren Beamten, vorgegangen. Auch das hat bei den untergeordneten Verwaltungsbeamten für eine gedrückte Stimmung gegenüber der faschistischen Regierung gesorgt.

Hinzu kommt die Steuerpolitik, worauf ich hier nicht näher eingehen kann, die jedoch den Klassencharakter der faschistischen Regierung deutlich unter Beweis stellt. Sie hatte vor, den Staatshaushalt zu konsolidieren, zu diesem Zweck aber keinerlei Maßnahmen gegen die Kapitalisten ergriffen. Um die Staatseinnahmen zu erhöhen, wurden einfach die Steuerbelastungen für die Arbeiter, die Verbraucher, den Mittelstand und das Kleinbürgertum hochgesetzt.

Eine der Hauptursachen für die Unzufriedenheit mit dem Faschismus liegt darin, wie die Landbevölkerung, die Kleinbauern, Pächter usw. behandelt werden. Der Faschismus ist der Feind des Industrieproletariats, aber für die italienische Bauernschaft sieht die Lage nicht besser aus. Schon die vorherigen Regierungen hatten gewisse Bestimmungen zur Grundsteuer erlassen, jedoch nicht praktiziert. Die Durchsetzung der Verordnung hat nunmehr der faschistische Minister de Stefani (6) mit so drakonischer Härte in die Wege geleitet, dass die Steuerlast für die ländlichen Kleinbesitzer und sogar für die Kleinbauern, Pächter und Landarbeiter nunmehr unerträglich ist. Erschwerend kommen noch die Kommunal- und Bezirkssteuern hinzu, die früher von den sozialistischen Gemeindevertretungen im antikapitalistischen arbeiterfreundlichen Sinne gehandhabt wurden. Heute dagegen entsteht durch eine Viehsteuer und andere Abgaben eine höchst schwierige Lage für die Kleinbauern. Die Weinsteuer wurde kürzlich geringfügig herabgesetzt, um der ungeheuren Unzufriedenheit auf dem Lande die Spitze nehmen. Nach wie vor jedoch bedeuten all diese Steuern eine furchtbare Belastung für die bäuerliche Bevölkerung.

Ich werde nur das Beispiel eines Genossen der italienischen Delegation, der selbst Kleinbauer ist, anführen. Für eine Bodenfläche von 12 Hektar, die er zum Teil selbst besitzt, zum Teil gepachtet hat, muss er bei einer Bilanz von 12000 Lire 1500 Lire, d.h. 12,5 Prozent, Steuern zahlen. Man kann leicht nachrechnen, was aus dem Boden herausgeholt werden muss, um den Lebensunterhalt für die Familie und seine Angestellten zu sichern!

Ich will noch auf die Lage in Süditalien eingehen, wo Bemerkenswertes geschehen ist. Im letzten Jahr war eine gute Weinernte. Die Preise sanken ins Bodenlose, und in diesem Jahr wird der Wein zu Spottpreisen verkauft. Die in Süditalien sehr zahlreichen Pächter erklären, keinerlei Gewinn mehr zu machen. In der Tat, wo die Pächter neben Wein noch anderes anbauen, rechnen sie im Allgemeinen damit, dass die anderen Produkte die Produktionskosten recht oder schlecht abdecken werden, während der Weinbau das abwirft, wovon sie ihr Leben fristen. Beim aktuellen Weinpreis, der Steuerbelastung und den Kosten der Weinherstellung bleibt für sie selbst nichts mehr, denn Produktionskosten und Verkaufspreis decken sich; sie sind gezwungen, sich zu verschulden und Vorschüsse von den Kleinbürgern der ländlichen Zentren oder von den Großgrundbesitzern zu erbitten und, im letzteren Fall, Hypotheken auf ihr Land aufzunehmen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Erhöhung der Pachten gesetzlich verboten. Dieses Gesetz haben die Faschisten zurückgenommen; die Kleinpächter müssen heute den Großgrundbesitzern eine um 100 bis 400 Prozent höhere Pacht zahlen. Auch die Bestimmungen über die Aufteilung der Ernte zwischen Grundbesitzern und Pächtern sind stark zuungunsten der Pächter geändert worden. Für seinen Lebensunterhalt muss der Kleinbesitzer einen Teil seines Grund und Bodens verkaufen oder auf das Grundstück verzichten, das er unter der Bedingung sofortiger Barzahlung der Hälfte des Kaufpreises und späterer Abzahlung der andern Hälfte gekauft hatte. Kann er heute nicht zahlen, verliert er sowohl Grund und Boden wie auch die bereits bezahlten Raten. Es findet eine wirkliche Expropriation der Kleinbesitzer statt. Sie, die nach dem Krieg Grund und Boden teuer gekauft hatten, sind heute, wenn sie kein Geld flüssig haben, gezwungen, mit Verlust zu verkaufen. Ich sage noch einmal, dass wir eine wirkliche Enteignung der Kleinbesitzer durch die Großgrundbesitzer vorfinden und dies immer mehr zu einer allgemeinen Erscheinung wird. Die Lage auf dem flachen Lande ist durch die Maßregeln der faschistischen Regierung nur noch verschlechtert worden.

Die Sozialisten haben ehedem eine Agitation betrieben, mit der wir nicht einverstanden sein konnten und die auf folgendes hinausläuft: Die Regierung soll die Urbarmachung von Ländereien finanzieren, um so die Beschäftigung für die Landarbeiter und Tagelöhner zu sichern und durch Entlastung des landwirtschaftlichen Arbeitsmarkts die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Um den Staatshaushalt zu konsolidieren, sind diese Arbeiten jetzt seitens der faschistischen Regierung eingestellt worden. Eine große Anzahl Landarbeiter ist daher auf den Arbeitsmarkt geworfen, das Elend auf dem Lande verschärft sich und die Lebensbedingungen der Landarbeiter haben sich noch weiter verschlechtert.

Die Unzufriedenheit richtet sich direkt gegen die faschistische Regierung. Die Faschisten haben viel vom „Schmarotzertum“ der alten roten Genossenschaften geredet, die durch parlamentarischen Druck die Förderung der staatlichen Beschäftigungspolitik erzwungen und so den Staat systematisch ausgenützt hätten. Nun, heute tun sie dasselbe, sie suchen mit ihren faschistischen Genossenschaften (sie haben fast den gesamten genossenschaftlichen Apparat der Sozialisten gewaltsam in ihre Hände gebracht) im Interesse der neuen faschistischen Bürokratie genau die gleiche Politik zu machen.

Die Lage, in die der Faschismus die Bauernschaft gebracht hat, ist derart, dass diese Klasse in der faschistischen Regierung eine ihr feindlich gesinnte Macht sieht und allmählich in Kampfstellung gegen sie geht. Es gibt schon Beispiele bewaffneter Bauernrebellionen gegen die Steuerlast und gegen die faschistischen Gemeindeverwaltungen, die zu blutigen Auseinandersetzungen führten. Das ist eine die Lage charakterisierende sehr bemerkenswerte Tatsache.

Nach diesen Anmerkungen über die Sozialpolitik des Faschismus gehe ich nun zu anderen Bereichen über, zunächst zur Religionspolitik des Faschismus. Die Haltung des Faschismus ist hier beispielhaft für seine ideologische Anpassungsfähigkeit. Anfangs gab er sich, um den Gemütszustand im Mittelstand und bei den Intellektuellen auszunutzen, ein antiklerikales Programm, womit er den Einfluss der katholischen Volkspartei (Popolari) auf dem flachen Lande untergraben wollte. In einem zweiten Schritt trat er in Konkurrenz zu den Popolari und wurde zur offiziellen Partei der Religion und des Katholizismus. Unter geschichtlichem und theoretischem Gesichtspunkt ist das beachtlich. Der Vatikan betreibt eine faschismusfreundliche Politik. Mit Befriedigung nahm er die Konzessionen an, die die faschistische Regierung ihm durch Verbesserung der Lage der Geistlichen und durch Wiederherstellung des Religionsunterrichts in den Schulen andiente. Mussolini, einstiger Herausgeber einer kleinen antireligiösen Bibliothek in der Schweiz – einer Bibliothek jener kleinen Groschenhefte, in denen die Nichtexistenz Gottes bewiesen wurde, in denen die Untaten der Päpste und die Geschichte der zum Papst gewählten Frau zu lesen waren, ebenso wie all die anderen Dummheiten, mit denen viele Jahrhunderte hindurch die Gehirne der Arbeitenden vernebelt wurden –, Mussolini selbst ruft heute, wenn es opportun erscheint, den „Ewigen Vater“ an und verkündet, Italien „im Namen Gottes“ zu regieren.

Doch der politische Opportunismus des Vatikans verschleiert einen fundamentalen Gegensatz, der in dem Verhältnis zwischen Faschismus und Popolari (die für eine Art christlicher Demokratie stehen) klar zutage tritt: Die katholische Idee als solche widerspricht dem Faschismus, denn er verherrlicht, ja vergöttlicht das Vaterland, die Nation, etwas, das vom Standpunkt des Katholizismus aus Ketzerei ist. Der Faschismus möchte aus dem Katholizismus eine nationale Angelegenheit machen. Die katholische Kirche verfolgt hingegen grundsätzlich eine internationale, universalistische Politik, um ihren sittlichen und politischen Einfluss über alle Grenzen hinaus auszudehnen. Dieser äußerst bezeichnende Gegensatz ist für den Augenblick durch einen Kompromiss zwischen Faschismus und Vatikan geglättet worden.

Kommen wir noch kurz zur auswärtigen Politik des Faschismus. Die Faschisten erklären, Italien habe sich unter dem Aspekt der internationalen Politik in einer äußerst schlechten Lage befunden: Man habe das Land belächelt, seit jedoch der Faschismus an der Macht sei, seit Italien eine starke Regierung habe, werde es geachtet und nehme in den internationalen Fragen eine ganz andere Stellung ein. Die Tatsachen zeigen nun aber, dass der Faschismus in der Außenpolitik bloß die alte Tradition der italienischen Bourgeoisie fortzusetzen vermag. Praktisch ist nichts geändert worden, nichts Neues eingetreten. Nachdem Mussolini seine Trumpfkarte mit der berühmten Episode der Besetzung Korfus (7) ausgespielt hatte, verzichtete er fortan auf derartige Streiche, wurde vernünftig und also in die Reihen der herkömmlichen Diplomatie aufgenommen, wobei er sich hütete, diesen Fehler in anderen Fragen noch mal zu machen. Die großen französischen und englischen Blätter schreiben, Mussolini sei ein sehr fähiger Politiker, und nach der Korfu-Expedition, die eine Art Kinderei gewesen wäre, sei er umsichtig und weise geworden. In Wirklichkeit ist die internationale Politik Mussolinis einfach die heute in Italien mögliche, d.h. eine Politik zweiten Ranges, denn Italien spielt im Kampf der großen Weltmächte nur eine untergeordnete Rolle. In der Frage der Reparationen und im Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland hat Mussolini immer eine mittlere Position eingenommen, die das bestehende Kräfteverhältnis weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin beeinflusst hat. Seine schwankende Haltung wurde bald von Deutschland, bald von Frankreich und bald von England mit Befriedigung aufgenommen.

Innerhalb Italiens konnte der Faschismus zwar das Kräfteverhältnis verändern, ja es sogar umstoßen. Auf internationaler Ebene kann er dasselbe jedoch nicht tun, denn auf die internationalen Machtverhältnisse hat er keinerlei Einfluss. Da die dafür nötigen geschichtlichen und sozialen Voraussetzungen fehlen, kann von einem italienischen Imperialismus nicht ernsthaft die Rede sein.

Bestimmte Fakten rücken die sehr gemäßigte Haltung ins rechte Licht, zu der Mussolini in seiner auswärtigen Politik gezwungen ist. Die Fiumefrage ist durch einen Kompromiss mit Jugoslawien gelöst worden. Die Kriegsdrohungen gegenüber Jugoslawien sind durch eine Politik der Kompromisse und der Versöhnung abgelöst worden. Auch hier hat der imperialistische Nationalismus sich den realen Tatsachen der Außenpolitik beugen müssen. Und die Anerkennung Sowjetrusslands zeigt, dass es zwar möglich ist, nach innen eine äußerst reaktionäre Politik zu betreiben, aber die Machtergreifung durch die Faschisten nicht automatisch mit sich bringt, auf internationalem Parkett desgleichen tun zu können.

Welche Wirkung hatte die Anerkennung Sowjetrusslands auf die italienischen Arbeiter? Sie besitzen eine ziemlich gute revolutionäre Schulung und sind nicht auf die Machenschaften der faschistischen Presse hereingefallen, die bis zu jenem Tage alle Verleumdungen gegen die Bolschewisten, alle Gräuelmärchen über Russland zusammentrugen und dann urplötzlich das Gegenteil schrieben, nämlich dass es sich nicht um eine kommunistische Revolution handele, dass der Bolschewismus liquidiert und Russland ein bürgerliches Land wie andere Länder auch sei, dass zwischen Italien und Russland gemeinsame materielle Interessen bestünden, dass Russland und das faschistische Italien sehr wohl zusammenarbeiten könnten usw. Es gab auch den reichlich gewagten Versuch, von zwei Revolutionen zu sprechen, zwei Diktaturen, zwei Beispielen für dasselbe Mittel zur Beseitigung der Demokratie, die ihrer Natur nach zu demselben Handeln kommen müssten und dergleichen mehr – das alles löste jedoch nur Heiterkeit aus. Tatsächlich nämlich geht es um sehr bestimmte kapitalistische Interessen: Die negative Entwicklung des Außenhandels hat nicht verhindert werden können, und um neue Absatzmärkte zu finden, lag es im Interesse der italienischen Kapitalisten, Beziehungen zu Russland aufzunehmen.

Die italienischen Arbeiter haben darin einen Beweis für die Schwäche des Faschismus, nicht der Sowjetrusslands gesehen. Anzumerken ist jedoch auch, dass das richtige politische Verständnis des italienischen Proletariats gegenüber diesem wichtigen internationalen Ereignis durch einen bedauerlichen Vorfall getrübt wurde: Einige russische Genossen gaben gewisse Erklärungen ab, die weit über die Bedeutung dieses politischen Aktes hinausgingen und Freundschaftsbeteuerungen gegenüber Italien enthielten, die als Freundschaftsbeteuerungen gegenüber dem offiziellen Italien, gegenüber dem großen Duce, aufgefasst werden konnten. Unter den von den Faschisten geschlagenen und verfolgten Arbeitern rief das natürlich einen gewissen Unmut hervor. Hätte man diesen Fehltritt vermieden, wären alle Erklärungen auf das volle politische Verständnis des revolutionären italienischen Proletariats gestoßen.

Kommen wir nun zum Verhältnis, das zwischen dem faschistischen Parteiapparat und dem Staatsapparat besteht, das sehr heikle Fragen aufgeworfen hat und eine schwere Krise und ständige Rangeleien in den faschistischen Reihen selbst zur Folge hatte. Innerhalb ihrer Organisation gab es von Anfang an ein großes Durcheinander. Es handelt sich im Übrigen um eine sehr breite, 700.000 Mitglieder zählende Organisation, weshalb Konflikte natürlich an der Tagesordnung sind; allerdings werden sie in der faschistischen Bewegung ungewöhnlich heftig und auch gewalttätig ausgetragen.

Anfangs wurde die Frage des Verhältnisses zwischen Partei und Staat ziemlich dilettantisch gelöst. Den staatlichen Behörden wurden politische Kommissare aus den Reihen der Partei an die Seite gestellt, die sich Einfluss zu verschafften wussten und die tatsächliche Macht in Händen hielten. Das führte natürlich zu Reibereien. Dieses Vorgehen wurde überprüft, der Staatsapparat wurde wieder in seine alten Rechte eingesetzt und die faschistischen Kommissare zurückgepfiffen.

Die Krise, die nur unter großen Schwierigkeit beigelegt werden konnte, ist jedoch nicht überwunden, denn innerhalb der faschistischen Bewegung bildeten sich zwei Richtungen: Die eine tritt für die Revision des radikalen Faschismus ein, will zur Legalität zurückkehren und erklärt: Wir haben die Macht, wir haben unseren großen politischen Führer Mussolini, wir können uns jetzt darauf beschränken, innerhalb des normalen und gesetzlichen Rahmens zu regieren; wir haben den ganzen Staatsapparat in unseren Händen, wir bilden die Regierung, unser Führer genießt das Vertrauen aller Parteien; die Partei hat es also nicht mehr nötig, in Verwaltungsangelegenheiten direkt mitzumischen. Diese Richtung will auf den terroristischen Kampf, auf den Gebrauch der außergesetzlichen Gewaltmittel verzichten, zu normalen Verhältnissen zurückkehren und Mussolini auf ihre Seite ziehen. Die Radikalen dagegen rekrutieren sich aus den lokalen Verwaltungsbehörden. Man hat ihnen die abessinische Bezeichnung „Ras“ beigelegt. Der „Rassismus“ tritt für die lokale Diktatur der faschistischen Besetzung in ganz Italien ein, mehr noch, für eine „zweite Welle“ des Terrors gegen die Oppositionellen. Einer seiner Repräsentanten ist der Abgeordnete Farinacci, der kürzlich sogar die Todesstrafe für Antifaschisten gefordert hat (8).

Es gibt also diese beiden Extreme: Zum einen die Strömung, die eine offensive „zweite Welle“ gegen die Opposition fordert und sagt: Wenn Mussolini die Revolution als noch nicht vollendet bezeichnet, dann muss sie eben vollendet werden, dann muss jetzt, wie man sich ausdrückt, für „fünf Minuten alles unter Feuer“ genommen werden, um die Feinde des Faschismus endgültig zu schlagen – und jene andere Richtung, die die Annäherung zwischen Faschismus und gewissen oppositionellen Elementen, ja sogar Reformisten vom Schlage der Führer des Gewerkschaftsbundes sucht. Durch geschicktes Taktieren, durch Konzessionen, die bald der einen, bald der anderen Richtung erteilt wurden, hat Mussolini eine gewisse Balance gehalten. Die Staatsbeamten und der Staatsapparat wurden wieder in ihre alten Funktionen eingesetzt, Mussolini hat aber nicht die Absicht, seine Stützpunkte der vom Staatsapparat unabhängigen Organisationen aufzugeben, auf denen die Macht des Faschismus und seine Verteidigungsmöglichkeiten gegenüber revolutionären Angriffen beruhen.

Der Faschismus hat das Parlament nicht aufgelöst. Die alte Abgeordnetenkammer hat, wie bereits erwähnt, Mussolini wiederholt das Vertrauen ausgesprochen, ihm alle Vollmachten und was er sonst noch verlangte, gegeben. Trotzdem hat der Faschismus das Wahlrecht ändern wollen. In Italien galt das Verhältniswahlrecht und der Faschismus wollte sich die Mehrheit sichern. Das wäre wohl auch mit Hilfe des alten Wahlmechanismus möglich gewesen. Auch mit dem Verhältniswahlrecht hätte der Faschismus das bekommen, was er heute bekommen hat. Auf der Basis des neuen Wahlgesetzes hat die Liste, die die meisten Stimmen auf sich vereinigt und insgesamt 25 Prozent der gesamten landesweit abgegebenen Stimmen erhält, Anrecht auf zwei Drittel der Parlamentssitze. Das heißt: ein Viertel der Wähler genügt, um zwei Drittel des Parlaments zu besetzen, natürlich nur, wenn nicht eine andere Liste 26 oder 27 Prozent einheimsen sollte, denn in diesem Falle würden der Letzteren jene Sitze zugesprochen. Auf der nationalen Mehrheitsliste standen 375 Namen, diese Abgeordneten sind also von Mussolini höchstpersönlich ausgesucht worden, denn es war klar, dass diese Liste über 25 Prozent der Stimmen kriegen würde. Um die Kandidatur entbrannte innerhalb der Partei ein regelrechter Kampf: Etwa 10.000 faschistische ras hatten den Ehrgeiz, zu den 375 Erwählten zu gehören. Aber es konnten ihnen nun auch nicht alle Plätze vorbehalten werden. Die Wahltaktik war eine doppelte: Im Norden, wo die faschistischen Organisationen sehr stark sind, hat man jeglichen Kompromiss abgelehnt und Listen aufgestellt, die sich ausschließlich aus Mitgliedern der faschistischen Partei zusammensetzen. Im Süden jedoch, wo sie viel schwächer ist, sah man sich zu einem Kompromiss mit bestimmten politischen Persönlichkeiten des alten Regimes genötigt. Man gestand ihnen auf den Listen breiten Raum zu: Insofern waren die Kandidaten teils neue, aus den faschistischen Reihen kommende Leute, teils politische, sozusagen traditionelle Figuren.

Die Wahlen sind vorbei. Ich werde darüber nicht im Einzelnen sprechen. Es ist bekannt, dass der faschistische Terror nicht so weit ging, der Opposition die Ausübung des Wahlrechts unmöglich zu machen. Die Sache wurde von Seiten der faschistischen Regierung mit einigem Geschick gehandhabt, denn man wusste genau, wenn man die Opposition bei den Wahlen ausgeschaltet hätte, die Wahlen sofort jeder politischen Bedeutung beraubt worden wären. Die Regierung beschränkte sich also darauf, das Wahlergebnis in ihrem Sinne zu beeinflussen. Mussolini sagt nun: „Die Wahlen sind vorbei. Die übergroße Mehrheit hat für uns gestimmt, diese Zustimmung legitimiert unsere Macht. Man kann nicht mehr von der Herrschaft einer Minderheit sprechen.“

Will man die Durchführung der Wahlen und ihr Ergebnis beurteilen, muss man zwischen dem Norden und dem Süden Italiens genau unterscheiden. Im Norden verfügt der Faschismus über sehr starke Organisationen, vor allem auf dem flachen Land, aber auch in den Industriestädten. Hier hatte er seine Wähler unter Kontrolle und konnte überprüfen, ob seine Parteimitglieder auch den Anweisungen gemäß stimmten, d.h. er hob das Wahlgeheimnis nahezu vollständig auf. Sicher haben die Faschisten ihre Gegner schonungslos bekämpft, aber sie haben sie letztendlich ihr Wahlrecht ausüben lassen, weil sie auf ihre eigenen Kräfte zählten. So erklärt sich, dass der Faschismus im Norden nur eine sehr schwache Mehrheit erhalten hat, ich meine hier die Mehrheit im wirklichen Sinne, also etwas mehr als 50 Prozent, nicht die künstlich festgelegte Mehrheit von 25 Prozent. In einigen Städten, wie in Mailand, weiß man sehr wohl, dass die nationale faschistische Liste gegenüber den Oppositionslisten in der Minderheit blieb.

Im Süden indes hat der Faschismus auf seinen Listen eine gewaltige Stimmenmehrheit vereinigt. Landesweit belief sich die Gesamtzahl der tatsächlichen Stimmen auf 7,3 Millionen; die Hälfte sind also 3.65 Millionen, mit 4,7 Millionen Stimmen haben die Faschisten nahezu eine Millionen mehr als die Hälfte. Diese gewaltige Mehrheit ist im Süden, dort, wo der Faschismus sich auf keinerlei feste Organisationen stützen kann, errungen worden: das ist schon äußerst merkwürdig – denn mit Ausnahme einiger Bezirke, wo sich landwirtschaftliche Konflikte ähnlich wie in der Po-Ebene abgespielt haben, hat es im Süden Italiens niemals einen echten Faschismus gegeben. Nun, er hat dort auf folgende Weise Fuß gefasst: Nach seiner Machtergreifung hielten es die lokalen bürgerlichen Klüngel für angebracht, formell dem Faschismus beizutreten, um den Verwaltungsapparat in Händen halten und weiter für sich nutzen zu können. Es gibt im Süden, wie gesagt, keine ernsthafte faschistische Organisierung, die große Mehrheit kam hier auf sehr simple Weise zustande. Die Vertreter der gegnerischen Listen wurden schlicht und einfach verjagt und faschistische Trupps aufgestellt, denen man Stimmzettel gab, die die Kommunalverwaltung zur Verfügung stellte; jedes Mitglied dieser Trupps ist dann 30, 40 und 50 Mal zur Urne gegangen. Angesichts dieser Umstände sah sich Mussolini zu der wunderlichen Feststellung veranlasst, der Süden Italiens habe das Vaterland gerettet, im Süden stünden die gestähltesten Kräfte für den Kampf gegen die revolutionäre Demokratie bereit, der Süden habe sich in den Jahren 1919 und 1920 nicht auf Abwege führen lassen usw. Er hat so seine vorherige politische Sicht der Dinge, wonach der Norden der am meisten fortgeschrittene und zivilisierte Teil des Landes und stärkste Stütze des Staates sei, auf den Kopf gestellt. In seinen letzten Reden kommt er allerdings auf seine frühere Sicht zurück und scheint dabei übersehen zu haben, seine Worte mit der Bedeutung der offiziellen Wahlresultate in Einklang zu bringen.

Im Süden ist der Faschismus jedenfalls sehr schwach. Mehr noch, man kann sogar sagen, dass man sich dort, wie in dem Fall Matteotti, klar und deutlich gegen die Regierung ausgesprochen hat. Eine wichtige Tatsache, die zeigt, mit welch künstlichen Mitteln sich der Faschismus an der Macht hält.

Noch ein kurzer Hinweis auf die anderen Parteien, die sich an der Wahl beteiligten. Bevor ich auf die faschistenfreundlichen Parteien eingehe, will ich an die nationalistische Partei erinnern, die heute völlig mit der faschistischen Partei verschmolzen ist. Die nationalistische Partei gab es schon lange, bevor vom Faschismus überhaupt gesprochen wurde; sie hat auf die Entwicklung des Faschismus großen Einfluss gehabt und sie war es, die ihm das klägliche theoretische Rüstzeug, das er besitzt, mitgab. Auch der rechte, von Salandra geführte Flügel der Liberalen hat sich mit dem Faschismus zusammengetan; seine Mitglieder standen als Kandidaten auf der faschistischen Liste; andere „liberale“ Persönlichkeiten und Gruppen, die nicht in die faschistische Wahlliste aufgenommen wurden, haben daneben ebenfalls rein faschistische Parallellisten aufgestellt, um wenigstens ein paar von den der Minderheit vorbehaltenen Parlamentssitzen zu ergattern. Neben den offiziellen und diesen Parallellisten gab es noch weitere liberale Listen, die von der Regierung nicht offiziell unterstützt wurden. Anderen, nicht eindeutig antifaschistischen Listen gegenüber, wie die Giolittis, verhielt man sich neutral, sie konnten sich ihre Sitze sichern, ohne dass dagegen vorgegangen wurde.

Was die Opposition angeht, muss zunächst die Niederlage hervorgehoben werden, die die parlamentarischen Parteien erlitten, aus denen sich die früher der Zahl ihrer Abgeordneten nach so starke „Demokratie“ zusammensetzte. Bonomi (Sozialreformist der äußersten Rechten) wurde nicht wiedergewählt. Di Cesare und Amendola (9) haben nach dem harten Kampf, den die Regierung vor allem Letzterem lieferte, nur ein kleines Grüppchen von Anhängern gerettet. Auch die Volkspartei (Popolari) hat eine schwere Niederlage einstecken müssen. Im alten Parlament hatte sie sogar an der faschistischen Regierung teilgenommen; ihre Haltung war immer zweideutig gewesen und es kam erst durch ihren Kampf gegen das neue Wahlgesetz zum offenen Bruch mit Mussolini, der auf diese Weise die Minister der Popolari los wurde. Die infolge dessen ausbrechende Krise zwang den Führer dieser Partei, Don Sturzo, offiziell sein Amt niederzulegen; tatsächlich aber leitet er weiterhin die Parteipolitik, was wiederum eine Art Spaltung bewirkt hat. Eine rechte Gruppe, die nationalen Popolari, haben sich von der Partei getrennt und für die faschistische Liste aufstellen lassen. Das Gros der Partei folgt jedoch nach wie vor Don Sturzo. Der von Migliori geführte linke Flügel der Partei hat sich ebenfalls abgelöst. Charakteristisch für ihn war die Agitation, die er auf dem Lande führte und zuweilen derjenigen der revolutionären Organisationen nahekam. Innerhalb der Partei hat der Einfluss der Großgrundbesitzer die Oberhand behalten und Don Sturzo spiegelt diesen Einfluss in der politischen Form des ehrlichen Maklers wieder. Dennoch, die Bewegung der Popolari hat einen schweren Schlag erhalten.

Eine weitere bemerkenswerte kleine Partei, die sich an den Wahlen beteiligte, ist die Bauernpartei, die in zwei oder drei Wahlkreisen eigene Listen aufgestellt hat. Diese Partei setzt sich aus unzufriedenen Kleinbauern zusammen, die ihre Interessenvertretung keiner der bestehenden Parteien anvertrauen wollten und es vorzogen, eine unabhängige Partei zu bilden. Es kann sein, dass diese Bewegung in Zukunft eine Rolle spielen wird, möglicherweise wird sie sogar auf Landesebene an Bedeutung gewinnen.

Die kleine Republikanische Partei, die zum Teil als Arbeiterpartei anzusehen ist, zeigt ein eher wirres Verhalten, bezieht jedoch gegen die faschistische Regierung ziemlich entschieden Opposition. Sie hat im Parlament zwei Sitze dazugewonnen, in der alten Kammer zählte sie fünf, heute sieben Abgeordnete.

Es gibt ferner die drei Parteien, die sich aus der alten traditionellen Sozialistischen Partei heraus entwickelt haben: die Unitaristen, die Maximalisten und die Kommunisten. Bekanntlich hatten diese drei noch in der SPI vereinigten Strömungen im Parlament zusammen 150 Sitze. Heute verfügen die Unitaristen über 24, die Maximalisten über 22 und die Kommunisten über 19 Sitze. Unter der Fahne der proletarischen Einheit hatten die Kommunisten mit der terzinternationalistischen Fraktion der maximalistischen Partei gemeinsame Listen aufgestellt. Man kann sagen, dass die Kommunistische Partei die einzige von allen Oppositionsparteien ist, die nicht nur in alter Stärke ins Parlament zurückkehrte, sondern noch einige neue Sitze hinzueroberte. 1921 hatten wir 15, heute 19 Abgeordnete. Ein Mandat wird allerdings noch angefochten und vielleicht bleiben nur 18, aber das sind Lappalien.

Außer den kleinen irredentistischen Listen der annektierten Deutschen und Slawen gibt es noch eine Sardische Partei, die vor einigen Jahren auf Sardinien entstand und, wenn nicht die völlige Loslösung von Italien, so doch weitgehende Autonomie fordert. Es handelt sich um eine Bewegung, die auf die Dezentralisation des Staates, auf eine weitgehende Auflösung des italienischen Staatsverbandes und der italienischen Nation zielt und vielleicht zu Parallelbewegungen in anderen Regionen, die sich in einer schlimmen Lage befinden, führen wird. In der Basilicata soll eine ähnliche Partei in Bildung begriffen sein. Diese Bewegung steht auch in Verbindung mit einer rein intellektuellen Bewegung in Turin, die auf Grundlage liberaler, zum Teil föderalistischer Theorien die Zeitschrift „Liberale Revolution“ herausgibt. Diese Gruppe tritt entschieden gegen den Faschismus auf, sie hat eine Anzahl Sympathisierender aus den Schichten der Intellektuellen und der Akademiker um sich gesammelt.

Wie man sieht, zerfällt die Opposition in eine große Anzahl kleiner Gruppen. Es sollen noch einige politische Strömungen erwähnt werden, die keine Wahlkampagnen führen. Da ist zum Beispiel die von D’Annunzio geführte Bewegung, d.h. eine kleine Elite, die sich um D’Annunzio (10) schart und nur auf das Zeichen ihres Führers wartet, um in Aktion zu treten. Der aber hat sich in letzter Zeit ziemlich widersprüchlich verhalten und eine Zeit lang in Schweigen gehüllt. Seine Bewegung entstammt der anfänglichen Bewegung des Mittelstandes und der ehemaligen Soldaten, die die Mobilisierung durch die Großbourgeoisie nicht mitmachen wollten, und sich – als sie feststellten, dass der Faschismus sein Programm verleugnete, um sich ganz der konservativen Richtung zu verschreiben – zum Teil abwandten. Daneben besteht die Bewegung des „freien Italiens“, d.h. die antifaschistische Opposition innerhalb der Organisation der ehemaligen Soldaten, deren Einfluss zurzeit stark zunimmt.

Noch eine antifaschistische Bewegung, die von sich reden macht, sind die Freimaurer. Ihre Logen haben angesichts des Faschismus eine ernste Krise durchgemacht. Es gab sogar eine – im Übrigen nicht weiter wichtige – Spaltung, eine erklärtermaßen faschistenfreundliche kleine Oppositionsgruppe soll sich von den Freimaurern getrennt haben. Die Faschisten haben gegen das Freimaurertum einen Feldzug geführt. Als Sozialist verhinderte Mussolini 1914 einen Beschluss über die Unvereinbarkeit mit den Freimaurern, eben denselben Beschluss setzt er jetzt als Faschist durch. Die Freimaurer sind diesem Angriff durchaus entschieden entgegen getreten. Sie haben im Ausland in bürgerlichen Kreisen durch die Propaganda gegen den faschistischen Terror bedeutende Aufklärungsarbeit geleistet. Auch in Italien gibt es diese Aufklärungsarbeit unter den Kleinbürgern und Intellektuellen, in deren Kreisen die Freimaurer sehr einflussreich sind; diese Sache ist einigermaßen wichtig.

Die anarchistische Bewegung spielt dagegen in der italienischen Politiklandschaft keine große Rolle mehr.

Man sieht, welch chaotisches Bild die verschiedenen Oppositionsströmungen gegenüber der mächtigen faschistischen Mehrheit abgeben.

Doch welche Bedeutung haben diese oppositionellen Gruppen – die in der Presse oder auf dem Gebiet der politischen und militärischen Organisation durchaus eine gewisse Kraft darstellen –, was die praktische Möglichkeit eines Angriffs auf den Faschismus in absehbarer Zeit angeht? Fast keine. Zwar möchten einige Gruppen, wie die Republikaner und die Freimaurer, den Eindruck erwecken, sie besäßen tatsächlich eine illegale antifaschistische Organisation, aber derartige Gerüchte sind nicht ernst zu nehmen. Was man ernst nehmen muss, ist die starke Oppositionsströmung in der Presse und in der öffentlichen Meinung. Die bürgerliche Opposition verfügt über eine sehr bedeutende Presse, und bestimmte sehr verbreitete Presseorgane Italiens nehmen eine Haltung ein, die sich – obwohl nicht offen oppositionell – dennoch eindeutig gegen den Faschismus stellt. So beeinflussen zum Beispiel der „Corriere della Sera“ in Mailand und die „Stampa“ in Turin die öffentliche Meinung vor allem des Mittelstandes stark im Sinne einer zähen, wenn auch nicht lautstarken Opposition. All das zeigt, dass die Unzufriedenheit mit dem Faschismus, nach seiner Machtergreifung, größer geworden ist.

Es ist zwar schwierig, die verschiedenen Oppositionsgruppen genau zu definieren und einzuordnen, dennoch lässt sich eine scharfe Trennungslinie zwischen der Stimmung in der Arbeiterschaft und der im Mittelstand ziehen. Das Proletariat ist seinem Klassenbewusstsein nach antifaschistisch; es sieht im Kampf gegen den Faschismus eine große Schlacht, die die Lage radikal umwälzen und die Diktatur der Revolution an Stelle der Diktatur des Faschismus setzen wird. Das Proletariat will sich rächen, nicht im banalen, moralischen Sinne des Wortes, es will sich im geschichtlichen Sinne rächen. Das revolutionäre Proletariat begreift instinktiv, dass der Machtzunahme und -überlegenheit der Reaktion mit der Gegenoffensive der oppositionellen Kräfte zu begegnen ist; es spürt, dass die Verhältnisse nur durch eine neue Phase harter Kämpfe und – wenn es siegt – durch die Diktatur des Proletariats radikal verändert werden können. Das Proletariat sieht diesem Augenblick entgegen, um dem Klassenfeind mit einer durch die Erfahrungen verzehnfachten Energie die Schläge zurückzugeben, die es heute hinnehmen muss.

Der Antifaschismus des Mittelstandes hat einen weniger aktiven Charakter. Zwar ist es eine starke, aufrichtige Opposition, aber sie ist grundsätzlich pazifistisch orientiert: Sie wünscht zutiefst, die politische Normalität, mit vollständiger Meinungs- und Diskussionsfreiheit, wiederherzustellen, aber ohne den Knüppel und Gewalt zu benutzen. Alles soll zum Normalzustand zurückkehren; sowohl Faschisten wie auch Kommunisten sollen das Recht haben, ihre Überzeugungen kund zu tun. Das ist die Illusion der Mittelschichten, denen das Gleichgewicht der Kräfte und der demokratischen Freiheit am Herzen liegt.

Zwischen diesen beiden Stimmungen, die aus der Unzufriedenheit mit dem Faschismus erwachsen, muss klar unterschieden werden, denn Letztere birgt für unseren Kampf Schwierigkeiten, die wir nicht unterschätzen dürfen.

Auch in der Bourgeoisie im engen Sinn des Wortes gibt es heute Zweifel an der Zweckmäßigkeit der faschistischen Bewegung. Man macht sich gewisse Sorgen und die beiden oben genannten Presseorgane sind bis zu einem gewissen Grad die Sprachrohre dieser Besorgnisse. Sie fragen sich, ob es das richtige Vorgehen ist, ob nicht übertrieben wird. Im Interesse unserer Klassenziele haben wir, so sagen sie, einen Apparat geschaffen, der gewissen Erfordernissen genügen muss. Aber schießt er nicht übers Ziel hinaus? Sieht er sich vielleicht gezwungen, mehr zu tun, als nötig wäre? Aus Angst vor einer revolutionären Explosion sind die klügsten Schichten der italienischen Bourgeoisie für eine Revision des Faschismus und seiner reaktionären Vorstöße. Im Interesse der Bourgeoisie liegt natürlich, dass diese Schichten der herrschenden Klasse eine Pressekampagne gegen den Faschismus lostreten, um ihn auf den Boden der Legalität zurückzubringen und zu einem sichereren und flexiblen Werkzeug der Ausbeutung der Arbeiterklasse zu machen. Sie bevorzugen die kluge Politik scheinbarer Konzessionen an die Arbeiter, indes sie gleichzeitig ihrer Begeisterung über die Erfolge des Faschismus, über die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung und die Bewahrung ihrer Grundlage – des Privateigentums – Ausdruck geben.

Diese Stimmungen haben großes Gewicht. So ist z.B. der Senator Agnelli, der Direktor der großen Automobilfabrik FIAT und der mächtigste Kapitalist Italiens, ein Liberaler. Wenn man aber, wie es einigen Genossen passiert ist, die Bedeutung dessen überschätzt, stößt man sofort auf die Empörung der FIAT-Arbeiter, die versichern, bei der FIAT herrsche genau dieselbe Reaktion wie in anderen Betrieben, die unter der Leitung von persönlich der faschistischen Partei angehörenden Kapitalisten stehen. Agnelli ist ja einer der klügeren Industriemagnaten; er weiß, wie gefährlich es ist, die Arbeiter zu provozieren; er kennt das unangenehme Gefühl, wenn die Arbeiter die Betriebe besetzten und die rote Fahne hissen; er gibt dem Faschismus wohlmeinende Ratschläge, den Kampf gegen die Arbeiter mit mehr Geschick zu führen. Offensichtlich stellt sich der Faschismus gegenüber solchen Ratschlägen nicht taub.

Vor dem Fall Matteotti hatte der Faschismus einen mehr nach links weisenden Kurs eingeschlagen. Mussolini hatte am Vorabend der Ermordung Matteottis eine Rede gehalten, in der er sich an die Opposition wandte und Folgendes sagte: „Ihr bildet das neue Parlament. Wir hätten keine Wahlen nötig gehabt; wir hätten eine diktatorische Macht ausüben können, aber wir wollten uns an das Volk wenden und ihr müsst heute zugeben, dass es sich uns voll und ganz angeschlossen hat, wir haben eine erdrückende Mehrheit.“ Matteotti eben bestritt dies und erklärte, unter demokratischen und verfassungsmäßigen Gesichtspunkt sei der Faschismus geschlagen, die Regierung in der Minderheit geblieben und ihre Mehrheit eine künstliche und vorgetäuschte. Natürlich sieht der Faschismus das ganz anders. Mussolini argumentiert folgendermaßen: „Aufgrund der Stimmenauszählung haben wir die Mehrheit. Ich spreche zur Opposition. Man kann auf zweierlei Arten Opposition treiben. Erstens nach Art der Kommunisten. Diesen Herren habe ich nichts zu sagen. Sie sind völlig konsequent. Ihre Absicht ist, uns eines Tages durch revolutionäre Gewalt zu stürzen und die proletarische Diktatur einzusetzen. Wir antworten ihnen: Wir werden nur einer überlegenen Macht weichen. Wollt ihr den Kampf riskieren? Nur zu! Den anderen Oppositionsgruppen sagen wir: Die Anwendung revolutionärer Gewalt ist kein Bestandteil eures Programms; ihr bereitet keinen Aufstand gegen uns vor. Was wollt ihr also? Wie gedenkt ihr euch der Macht zu bemächtigen? Das Gesetz gibt uns fünf Jahre als Legislaturperiode dieses Parlaments. Bei Neuwahlen würden wir im Übrigen das gleiche Resultat erzielen. Das Beste ist also, zu einer Verständigung zu kommen. Wir haben vielleicht übertrieben, vielleicht über die Stränge geschlagen. Wir haben illegale Methoden benutzt, die ich zu unterdrücken suche. Ich schlage euch vor, zusammen zu arbeiten! Macht Vorschläge, legt eure Gedanken dar! Wir werden einen Mittelweg finden.“

Mit diesem Appell zur Zusammenarbeit wandte er sich an alle nicht-revolutionären Oppositionsgruppen. Allein die Kommunisten waren von Mussolinis Angebot ausgenommen. Außerdem hat er mehr als einmal erklärt, mit dem Gewerkschaftsbund zu einer Verständigung kommen zu können, da dieser nicht auf dem Boden der demagogischen Revolutionstheorie stehe und der Bolschewismus ja nun erledigt sei usw.

So lagen die Dinge. An dieser Haltung Mussolinis lässt sich die Stärke der antifaschistischen Opposition ablesen. Die Regierung sah sich genötigt, eine Wendung nach links zu machen. Doch dann kam es zum großen Knall. Der Fall Matteotti hat die Lage völlig verändert. Die Vorgänge sind bekannt: Der reformistische Abgeordnete Matteotti verschwand eines Tages. Zwei Tage lang wartete seine Familie vergebens auf seine Rückkehr. Dann wandte sie sich an die Polizei, die behauptete, von nichts zu wissen. Nachdem die Zeitungen die Meldung vom Verschwinden Matteottis gebracht hatten, sagten einige Augenzeugen aus, gesehen zu haben, wie Matteotti auf der Straße von fünf Personen überwältigt und gewaltsam in ein Automobil gezerrt worden sei, das sofort mit hoher Geschwindigkeit davon gefahren wäre.

Die öffentliche Meinung geriet sogleich in einen Zustand größter Erregung: Vielleicht wird Matteotti gefangen gehalten, vielleicht handelt es sich nur um eine Rückkehr zum individuellen Terror, zur Politik des „Knüppels“, vielleicht will man ihn nur zwingen, irgendeine Erklärung zu unterzeichnen. Ist es nur das oder steht was Schlimmeres zu befürchten? Gar ein Mord?

Die Regierung war genötigt zu antworten. Mussolini erklärte sofort: Wir werden die Täter zur Rechenschaft ziehen. Es gab Verhaftungen; aber sehr bald war allen klar, dass Matteotti von Mitgliedern einer faschistischen Bande ermordet worden war, die mit der terroristischen Organisation der Partei in Verbindung steht. Die Faschisten nahmen sofort folgende Haltung ein: Es handelt sich um eine entsetzliche Tat jener illegalen Richtung, die wir bekämpfen und gegen die Mussolini immer eingeschritten ist. Es handelt sich um eine Einzeltat, um ein gemeines Verbrechen. Wir werden gegen die Schuldigen vorgehen.

Die öffentliche Meinung war dadurch aber nicht besänftigt. Die gesamte Presse legte eilends dar, dass das Verbrechen kein rein persönliches Motiv haben könne, dass die Mörder in Wirklichkeit Mitglieder eines Geheimbundes, einer Art schwarzer Bande, seien, die bereits bei anderen Gelegenheiten ähnliche Verbrechen begangen hätten, Verbrechen, die ungestraft geblieben seien, weil sie kein Aufsehen wie bei der Ermordung Matteottis erregt hätten.

Immer mehr Leute werden öffentlich beschuldigt. Persönlichkeiten der faschistischen Partei werden angegriffen. Es wird nachgewiesen, dass das fragliche Automobil durch die extrem faschistische Zeitung „Corriere Italiano“ bereitgestellt worden ist. Ein Mitglied des faschistischen „Vierer-Direktoriums“, Cesare Rossi wird bezichtigt; ebenso der Staatssekretär des Innern, Aldo Finzi; Faschisten werden verhaftet. Die Antifaschisten führen eine heftige Pressekampagne.

Die Frage, wer den Mord zu verantworten hat, taucht auf: Denn es handelt sich zweifellos um einen Mord, auch wenn die Leiche bis heute nicht gefunden wurde. Haben wir ein Verbrechen vor uns, dem politischer Fanatismus zugrunde liegt, ein politisches Verbrechen, einen Racheakt für die Rede, die Matteotti im Parlament gegen den Faschismus gehalten hat? Oder ist den Kidnappern schlicht und einfach ein Fehler passiert? Meiner Ansicht nach lässt sich diese Annahme keineswegs ausschließen. Möglicherweise sollte Matteotti ein oder zwei Tage festgesetzt werden, wurde dann aber infolge gewaltsamen Widerstandes von den Banditen getötet. Oder muss man etwas ganz anderes vermuten? Es heißt, Matteotti hätte gewisse Dokumente in Händen gehabt, die eine Reihe von Mitgliedern der faschistischen Regierung der Korruption überführen und beabsichtigt, diese Dokumente veröffentlichen. Sollte er deswegen liquidiert werden? Doch für diese Hypothese spricht nicht viel. Matteotti wäre sicher nicht so unvorsichtig gewesen, derartige Dokumente bei sich zu tragen, und wenn doch, hätten sicherlich Kopien dieser Dokumente existiert. Im Verlauf der Pressekampagne wurde jedenfalls versichert, das Innenministerium sei zu einer „Handelskammer“ geworden, in dem italienische und ausländische Unternehmer jedwede Konzession erwerben könnten. Es war von großen Summen die Rede, die hohe Staatsbeamte kassiert hätten, wie im Falle Sinclair, d.h. dem Ölvertrag, der einer ausländischen Firma das Monopol der Ölförderung in Italien sichert. Auch das Casino von Monte Carlo soll für den Erlass des Gesetzes, das die Erlaubnis zur Eröffnung von Spielbanken in Italien einschränkt, eine enorme Summe gezahlt haben. Auf Grund dieser Gerüchte ist Finzi von den Faschisten regelrecht gezwungen worden, sofort seinen Rücktritt einzureichen.

Die Frage bleibt offen: Handelt es sich um ein politisches Verbrechen im engeren Sinne des Wortes oder um ein Verbrechen, dessen Motiv ist, Zeugen der moralischen Verderbtheit der faschistischen Regierung mundtot zu machen? Wie auch immer, die Haltung der bürgerlichen Opposition und der kommunistischen Opposition ist jedenfalls völlig verschieden. Was sagt die bürgerliche Opposition? Für sie ist es eine rein rechtliche Frage. Sie fordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ihr Standpunkt ist, dass die Regierung nicht nur der Straftäter habhaft werden müsse, sondern die Gerichte Licht in die ganze Angelegenheit zu bringen hätten und auch hochgestellte Persönlichkeiten, ja sogar Mitglieder der Regierung, soweit in die Affäre verwickelt, zur Verantwortung zu ziehen seien. So wurde z.B. General de Bono, der oberste Polizeichef, der Mitverantwortung beschuldigt und musste daraufhin zurücktreten. Das zeigt, dass die Sache bis ganz nach oben reicht. De Bono ist allerdings nach wie vor oberster Befehlshaber der „Nationalen Miliz“. Die bürgerliche Opposition sieht also in der ganzen Angelegenheit einen Fall für die Justiz, für sie ist es eine Frage der politischen Sittlichkeit, der Wiederherstellung der Ruhe und des Burgfriedens; mit dem Terror und solchen Gräueltaten müsse endlich Schluss sein.

Für uns handelt es sich indes um eine politische und historische Frage, eine Frage des Klassenkampfes, eine so grausame wie notwendige Folge der kapitalistischen Offensive zur Verteidigung der italienischen Bourgeoisie. Auf die gesamte faschistische Partei, auf die gesamte Regierung, auf die gesamte bürgerliche Klasse Italiens und deren Regime fällt die Verantwortung, dass solche Gewalttaten möglich sind. Es muss offen ausgesprochen werden, dass einzig und allein das revolutionäre Handeln des Proletariats eine derartige Lage überwinden kann: Eine Lage, die solche Symptome aufweist, kann nicht durch rein juristische Maßregeln, durch die spießbürgerliche Forderung nach Ruhe und Ordnung gerettet werden. Im Gegenteil bedarf es dazu der Zerstörung der bestehenden Ordnung, einer vollständigen Umwälzung, die nur das Proletariat bewerkstelligen kann.

Die Kommunisten haben sich vom ersten Augenblick an dem Protest der parlamentarischen Opposition angeschlossen. Aber es war sehr schnell unabdingbar, sich von der bürgerlichen Opposition abzugrenzen – die Kommunisten haben dann die weiteren Erklärungen der anderen Parteien nicht mehr mitgetragen.

Im Parlamentsausschuss der Opposition sind auch die Maximalisten vertreten. Diesbezüglich ist über einen bezeichnenden Vorfall zu berichten. Als Protestaktion gegen die Ermordung Matteottis hatte die KPI umgehend den Generalstreik vorgeschlagen. Spontane Streiks waren bereits in einer Reihe von Städten ausgebrochen, was zeigt, dass es sich um einen realistischen und ernstzunehmenden Vorschlag handelte. Die anderen Parteien schlugen mit Zustimmung der Maximalisten einen zehnminütigen Streik als Protestaktion zu Ehren Matteottis vor. Dabei hatten die Reformisten, die Maximalisten, der Gewerkschaftsbund und die übrigen Oppositionsgruppen das Pech, dass der Industrieverband und die faschistischen Gewerkschaften diesen Vorschlag sofort aufgriffen und sich der Opposition offiziell anschlossen! Dadurch hat dieser Protest natürlich jede Bedeutung als Klassenaktion verloren. Es ist heute ganz klar, dass allein die Kommunisten einen Vorschlag machten, durch den das Proletariat tatsächlich entscheidend in die Situation hätte eingreifen können.

Welche Aussichten bietet die heutige Lage der Regierung Mussolini? Vor diesen letzten Ereignissen mussten wir konstatieren, dass, obgleich es beeindruckende Anzeichen einer zunehmenden Unzufriedenheit mit dem Faschismus gab, dessen militärische und staatliche Organisation doch zu stark war, um eine Macht auftreten zu lassen, die imstande gewesen wäre, dem Faschismus in absehbarer Zeit eine Niederlage beizubringen. Die Unzufriedenheit nahm zu, die Lage verschlechterte sich, aber wir waren noch weit von einer wirklichen Krise entfernt.

Die jüngsten Ereignisse sind ein schlagendes Beispiel dafür, wie kleine Ursachen große Wirkungen auslösen können. Die Ermordung Matteottis hat den Gang der Dinge enorm beschleunigt, auch wenn natürlich die gesellschaftlichen Verhältnisse die Voraussetzungen dafür latent in sich bargen. Der Faschismus ist in eine prekäre Lage geraten, er hat moralisch, psychologisch und im gewissen Sinne auch politisch eine bittere Niederlage erlitten. Diese hat sich noch nicht auf die politische, militärische und administrative Ebene ausgewirkt, es ist aber klar, dass eine solche moralische und politische Niederlage der erste Schritt dahin ist, dass die Krise ihren Gang nimmt und um die Macht gekämpft werden wird.

Die Regierung hat erhebliche Zugeständnisse machen müssen. Mussolini sah sich z.B. gezwungen, das Innenministerium dem alten nationalistischen Führer und heutigen Faschisten Federzoni zu überlassen; er sah sich noch zu anderen Zugeständnissen gezwungen, gleichwohl hält er sich an der Macht. In seinen Reden im Senat hat er offen erklärt, seinen Platz behaupten und alle Machtmittel, über die er noch verfüge, gegen jeden, der ihn angreife, anwenden zu wollen.

Nach den letzten Informationen aus Italien hat sich der Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit noch nicht gelegt; objektiv aber hat sich die Situation stabilisiert. Die Mobilmachung der „Nationalen Miliz“ zwei Tage nach der Ermordung Matteottis ist wieder rückgängig gemacht worden, ihre Mitglieder kehren zu ihren üblichen Beschäftigungen zurück. Das bedeutet, die Regierung hält die unmittelbare Gefahr für gebannt. Klar ist jedoch, dass es viel eher, als wir vor dem Mord an Matteotti gedacht hätten, zu bedeutsamen Ereignissen kommen kann. Klar ist auch, dass die Situation für den Faschismus schwieriger werden wird und die praktischen Möglichkeiten für antifaschistische Aktionen heute andere sind als zuvor.

 

* * *

 

Wie sollen wir uns angesichts dieser neuen und unerwartet eingetretenen Lage verhalten? Ich werde meine Sicht hier schematisch darlegen.

Die Lage in Italien ist so, dass die KPI ihre selbständige Rolle deutlich machen und dem Inhalt nach folgende Losung ausgeben muss: An die Stelle der auf den Burgfrieden zielenden Aktivitäten der bestehenden antifaschistischen Oppositionsgruppen muss die direkte und offene Aktion der kommunistischen Bewegung treten. Wir stehen heute vor Ereignissen, die die KPI in den Vordergrund des öffentlichen Interesses rücken. Eine bestimmte Zeit lang, nach der Machtübernahme des Faschismus, wurden unsere Genossen massenhaft verhaftet. Damals hieß es, die kommunistischen Kräfte seien vernichtet und in alle Winde zerstreut; die revolutionäre Bewegung sei am Boden. Seit einiger Zeit jedoch, seit den Wahlen usw. gibt die Partei so starke Lebenszeichen von sich, als dass derartige Behauptungen noch aufrechterhalten werden könnten. Es gibt keine Rede Mussolinis, in der nicht auch von den Kommunisten gesprochen wird. In der Polemik über den Fall Matteotti muss sich die faschistische Presse jeden Tag gegen die Kommunisten verteidigen und Stellung gegen sie beziehen.

Das zieht alle Blicke auf unsere Partei und die spezifische und selbständige Aufgabe, die ihr gegenüber allen anderen einander verwandten Oppositionsgruppen zufällt. Ihre besondere Stellung grenzt unsere Partei scharf von allen anderen Gruppen ab. Außerdem ist im italienischen Proletariat, dank den Erfahrungen der vergangenen Klassenkämpfe in Italien während des Krieges, der Nachkriegszeit und infolge der grausamen Enttäuschungen, die es durchgemacht hat, das Bewusstsein über die Notwendigkeit der vollständigen Ausschaltung aller sozialdemokratischen Richtungen – von der bürgerlichen Linken bis zum rechten Flügel der Arbeiterparteien – fest verankert. All diese Strömungen hatten die Möglichkeit, zu handeln und sich zu behaupten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sie unfähig sind und noch nicht mal zur revolutionären Verteidigung taugen. Die Vorhut des revolutionären Proletariats, die Kommunistische Partei, ist die einzige, die nie zurückgewichen ist.

Um jedoch in Italien eine selbständige Politik führen zu können, ist es unbedingt notwendig, dass in der Partei selbst kein Defätismus herrscht. Es ist nicht hinnehmbar, wenn den italienischen Arbeitern, die der Partei und deren Anstrengungen vertrauen, erzählt wird, die bisherigen kommunistischen Vorstöße und Initiativen seien fehlgeschlagen und gescheitert!

Wenn wir in der Praxis zeigen, dass die Partei den Kampf zu organisieren und ihre eigene Taktik durchzuführen versteht, wenn wir in der Praxis zeigen, dass als einzige Oppositionspartei nur noch die KPI besteht, wenn wir eine Lösung zu geben verstehen, die einen realistischen Weg zum Angriff weist, werden wir die Aufgabe, die oppositionellen Gruppen, vor allem die Sozialisten und Maximalisten, auszuschalten, erfolgreich erfüllen: In diesem Sinne, denke ich, sollten wir die aktuelle Situation in Italien nutzen. Die so orientierte Arbeit darf sich allerdings nicht auf bloße Polemik beschränken, es muss eine praktische Arbeit zur Eroberung der Massen entfaltet werden. Ziel unserer Tätigkeit ist die Zusammenfassung der Massen für den revolutionären Kampf, die Einheitsfront des Stadt- und Landproletariats unter Führung der Kommunistischen Partei. Erst eine solche Bündelung der Kräfte wird die Voraussetzung dafür schaffen, den direkten und offenen Kampf gegen den Faschismus aufzunehmen. Es ist eine große Arbeit, die geleistet werden kann und geleistet werden muss, ohne dabei die Selbständigkeit der Partei aufs Spiel zu setzen.

Nicht auszuschließen ist, dass der Faschismus nach der Affäre Matteotti eine zweite Terrorwelle, eine neue Offensive gegen die Opposition lostritt. Aber auch das wird bei diesem Gang der Dinge eine Episode bleiben. Vielleicht wird es infolge des neuen Terrors einen Rückzug der Opposition, ein Abflauen der öffentlichen Unmutsäußerungen geben. Mit der Zeit aber werden die Opposition und die Unzufriedenheit wieder zunehmen, der Faschismus kann seine Macht nicht auf Dauer durch permanenten Druck sichern. Es besteht auch die andere Möglichkeit: Auf Initiative der KPI die Arbeitermassen zu sammeln und die Parole des Wiederaufbaus der roten Gewerkschaften auszugeben. Vielleicht wird es morgen möglich sein, mit dieser Arbeit zu beginnen.

Eine solche Tätigkeit zu entfalten sind die Opportunisten nicht bereit. Die Aufforderung, wieder in die roten Gewerkschaften einzutreten, würde bei den Arbeitern in vielen Städten auf offene Ohren stoßen. Da dies aber gleichzeitig das Signal zum Kampfe wäre und die Bereitschaft verlangt, gegen die Faschisten zu kämpfen, haben die opportunistischen Parteien durchaus keine Eile, die Massenorganisationen des Proletariats wieder zu errichten. Wenn die Kommunistische Partei die Situation nutzt und als Erste diese Parole ausgibt, wird sich die Möglichkeit zur Reorganisierung der italienischen Arbeiterbewegung mit der KPI als ihrem Zentrum auftun.

Auch vor der durch den Fall Matteotti geschaffenen Situation war unsere selbständige Haltung das Beste, was wir machen konnten. Bei den Wahlen z.B. haben auch Nichtkommunisten für unsere Listen gestimmt, weil sie im Kommunismus, wie sie sagten, den klarsten und radikalsten Antifaschismus, die schärfste Ablehnung dessen, was ihnen verhasst war, fanden. So ist unsere selbständige Position ein Mittel, um politischen Einfluss auch auf die nicht praktisch mit uns verbundenen Schichten zu gewinnen.

Gerade der Tatsache, mit einem unmissverständlichen Programm angetreten zu sein, ist das gute Wahlergebnis der KPI zu verdanken, trotz der in erster Linie gegen unsere Listen und unsere Wahlkampagne gerichteten Offensive der Regierung. Unsere Losung war die der „Einheit des Proletariats“, doch die Massen gaben uns ihre Stimmen, weil wir Kommunisten sind, weil wir dem Faschismus offen den Krieg erklärten, und weil die Gegner unsere Unnachgiebigkeit beklagten. Diese Haltung hat uns gute Ergebnisse beschert. So auch beim Fall Matteotti. Alle Augen waren auf die Kommunistische Partei gerichtet, die eine ganz andere Sprache als die anderen Oppositionsparteien spricht. Was heißt, dass nur eine vollkommen eindeutige und radikale Haltung sowohl gegenüber dem Faschismus als auch gegenüber der Opposition uns befähigen wird, den Gang der Dinge zu nutzen, um die enorme Macht des Faschismus niederzuringen.

Durch eine gleichartige Tätigkeit müssen wir die Bauernmassen an uns ziehen. Innerhalb ihrer Interessenvertretungen müssen wir eine Organisationsform finden, die uns ermöglicht, nicht nur unter den Landarbeitern, die grundsätzlich nicht anders als die Industriearbeiter gestellt sind, sondern auch unter den Pächtern, den Kleinbauern usw. zu wirken. Die wirtschaftliche Lage ist dermaßen schlecht, dass kein noch so großer Druck die Herausbildung solcher Organisationen verhindern kann. Es muss versucht werden, die kleinen Landeigentümer dafür zu interessieren und ein klares Programm gegen ihre Unterdrückung und Enteignung aufzustellen. Mit der gänzlich unbestimmten Haltung der Sozialistischen Partei auf diesem Gebiet muss gebrochen werden. Die bestehenden Verbände können durchaus für die Bildung von Bauernorganisationen genutzt und auf den Weg zur Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen der Bauernschaft gedrängt werden. Wenn sie nämlich auf bloße Stimmenfängerei reduziert werden, werden diese Verbände den bürgerlichen Agitatoren, den Politikern und kleinen Provinzfürsten in die Hände fallen. Gelingt es uns hingegen, eine Organisationsform zur Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen der Bauernschaft ins Leben zu rufen (keine Gewerkschaft, denn die Vorstellung einer Gewerkschaft der Kleinbesitzer birgt erhebliche theoretische Bedenken), werden wir eine Vereinigung haben, innerhalb derer wir Gruppen bilden, auf die wir Einfluss nehmen können, und in der wir einen Stützpunkt für ein Bündnis des Stadt- und Landproletariats unter Führung der Kommunistischen Partei finden.

Es geht sicherlich nicht darum, ein terroristisches Programm vorzulegen, wie es die Legenden über uns suggerieren. Es hieß, wir wollten eine Minderheitspartei, eine kleine Elite und ähnliche Dinge. Derartige Thesen haben wir niemals von uns gegeben. Wenn es eine Bewegung gibt, die sich unermüdlich durch ihre Kritik wie auch durch ihre Taktik bemüht hat, die früher von anarchistischen und syndikalistischen Figuren verbreiteten Hirngespinste über terroristische Minderheiten zu zerstören, so ist es gerade unsere Partei. Wir haben uns dieser Tendenz immer widersetzt, und es heißt tatsächlich die Dinge auf den Kopf stellen, wenn man uns als Terroristen oder Anhänger der Aktion kleiner bewaffneter Heldengrüppchen hinstellt!

Wir sind allerdings der Ansicht, zu dem Problem der Entwaffnung der weißen Garden und der Bewaffnung der Arbeiter, mit dem sich die KPI heute befasst, grundsätzlich Stellung beziehen zu müssen.

Zweifelsohne ist der Kampf nur unter Teilnahme der Massen möglich. Die große Masse der Arbeiter weiß sehr wohl, dass die Frage nicht durch den Angriff einer heroischen Vorhut gelöst werden kann. Eine naive von jeder marxistischen Partei zurückgewiesene Vorstellung. Wenn wir nun aber die Parole der Entwaffnung der weißen Garden und der Bewaffnung der Arbeiter ausgeben, müssen wir auch deutlich machen, dass die Arbeitermassen selbst die Träger des Kampfes sind. Wir müssen die Illusion bekämpfen, wonach eine „Übergangsregierung“ so naiv sein könnte zu glauben, dass die Stellungen der Bourgeoisie – mittels legaler Mittel oder parlamentarischer Manöver, mittels mehr oder minder geschickter Hilfsmittel – umzingelt werden könnten, die Machtmittel der Bourgeoisie und ihr Staatsapparat also legal in Besitz genommen und die Waffen einfach an die Arbeiter verteilt werden könnten, um dann in aller Ruhe das Signal zum Kampf zu geben. Eine in der Tat kindische und naive Vorstellung! So einfach ist es nicht, die Revolution zu machen!

Wir wissen sehr gut um die Unmöglichkeit, mit ein paar Hunderten oder Tausenden bewaffneter Kommunisten in den Kampf zu treten. Die Kommunistische Partei Italiens ist die letzte, die sich solchen Illusionen hingibt. Wir wissen sehr gut um die Notwendigkeit, die Massen im Kampf an uns zu ziehen. Doch die Bewaffnung ist eine Frage, die nur mit revolutionären Mitteln gelöst werden kann. Wir können die erlahmende Entwicklung des Faschismus ausnutzen, um bewaffnete Arbeitergruppen aufzustellen. Wir müssen aber gleichzeitig die Illusion zerstören, wonach uns irgendein Manöver eines Tages in den Stand setzen wird, uns der Machtmittel und des Staatsapparates der Bourgeoisie zu bemächtigen, d.h. unseren Gegnern die Hände zu binden, bevor wir zum Angriff übergehen.

Diese Illusion, die die Arbeiter politisch träge macht, zu bekämpfen, ist kein Terrorismus, sondern im Gegenteil ein wirklich marxistisches und revolutionäres Verhalten. Wir behaupten durchaus nicht, „Erwählte“ zu sein und durch die Aktion einer kleinen Minderheit das gesellschaftliche Gleichgewicht umstürzen zu können. Umgekehrt, wir wollen die Führung der Arbeitermassen erringen, wir wollen den geschlossenen Kampf des Proletariats, wir wollen aber auch die Erfahrungen der italienischen Arbeiter nutzen, die gezeigt haben, wie Kämpfe unter der Leitung einer nicht gefestigten Partei – auch einer Massenpartei – oder unter der Leitung einer improvisierten Parteienkoalition zwangsläufig zu einer Niederlage führen. Wir wollen den gemeinsamen Kampf der Arbeitermassen in Stadt und Land, aber unter der Führung eines Generalstabs mit einer klaren politischen Linie, d.h. der Kommunistische Partei. Das ist die Frage, vor der wir stehen.

Die Lage wird sich mehr oder minder komplizieren, aber bereits heute sind die Bedingungen dafür da, Losungen auszugeben und dahingehend zu agitieren, dass die Kommunistische Partei die Initiative und Leitung der Revolution übernimmt und offen die Notwendigkeit ausspricht, über die Trümmer der bestehenden antifaschistischen Oppositionsgruppen vorwärts zu gehen. Das Proletariat muss gewarnt sein, dass sich in dem Moment, wo die Bourgeoisie akut mit der Machtergreifung durch die Arbeiterklasse konfrontiert ist, alle bürgerlichen und sozialdemokratischen Kräfte mit dem Faschismus verbünden werden. Das sind die Perspektiven des Kampfes, auf den wir vorbereitet sein müssen.

Ich will zum Schluss einige Worte über den Faschismus als internationalem Phänomen sagen, wobei ich mich auf die Erfahrungen, die wir in Italien gemacht haben, stütze.

Wir denken, der Faschismus wird sich wohl auch außerhalb Italiens ausbreiten. Ähnliche Bewegungen in anderen Ländern, wie in Bulgarien, Ungarn und vielleicht auch Deutschland, werden ziemlich sicher durch den italienischen Faschismus unterstützt. Falls sich ähnliche Bewegungen in andern Ländern als Kampfmittel gegen die Arbeiter etablieren, hat das Proletariat der ganzen Welt natürlich die Lektionen zu lernen, die der Faschismus in Italien erteilt hat; doch dürfen bestimmte spezifische Voraussetzungen, die in Italien bestehen und dem Faschismus erlaubten, eine solch gewaltige Kraft zu werden, nicht übersehen werden, namentlich die nationale und religiöse Einheit.

Ich glaube, diese beiden Voraussetzungen sind für die Mobilisierung des Mittelstandes durch den Faschismus unentbehrlich. Für eine sich die heutige Stimmung nutzbar machende Mobilisierung ist die nationale und religiöse Einheit als Basis nötig. In Deutschland steht der Bildung einer großen faschistischen Partei offenbar das Bestehen zweier Konfessionen und verschiedener Nationalitäten mit teilweise separatistischen Neigungen entgegen. In Italien fand der Faschismus außerordentlich günstige Bedingungen vor: Es gehörte zu den Siegerstaaten, Chauvinismus und Patriotismus waren dort bis zur Siedehitze gesteigert, während die materiellen Vorteile des Sieges ausblieben. Die Niederlage des Proletariats steht in engem Zusammenhang damit. Die Mittelschichten warteten eine Weile ab, ob das Proletariat die Kraft hätte zu siegen. Als sich jedoch die Ohnmacht der Arbeiterparteien zeigte, glaubten sie autonom handeln und die Regierung in die eigenen Hände nehmen zu können. In der Zwischenzeit hatte die Großbourgeoisie Gelegenheit, diese Kräfte vor den Karren ihrer eigenen Interessen zu spannen.

Aufgrund dieser Tatsachen meine ich, dass wir in den anderen Ländern noch keinen so ausgesprochenen Faschismus wie den italienischen zu erwarten haben, einen Faschismus im Sinne der vereinheitlichten Bewegung der ausbeutenden Oberschichten und einer Mobilisierung der breiten Massen des Mittelstandes und der Kleinbourgeoisie im Interesse dieser Schichten.

Der Faschismus in den anderen Ländern unterscheidet sich von dem in Italien. Er ist dort erst mal nur eine kleinbürgerliche Bewegung, mit durch und durch reaktionärer kleinbürgerlicher Ideologie und einigen bewaffneten Formationen; eine Bewegung, die sich jedoch nicht vollständig mit der Großindustrie und vor allem dem Staatsapparat zu identifizieren vermag. Dieser Staatsapparat kann sich wohl mit den Parteien der Großindustrie, der Großbanken und der Großgrundbesitzer verbünden, aber auf den Mittelstand und das Kleinbürgertum muss er kaum Rücksichten nehmen. Auch dieser Faschismus ist ein Feind des Proletariats, doch viel weniger gefährlich als der italienische Faschismus.

Meiner Ansicht nach ist die Frage der Beziehungen zu einer solchen Bewegung klar beantwortet: Es ist völlig verrückt, irgendwelche Verbindungen zu ihr aufzunehmen. Gerade eine solche Bewegung bereitet der Boden für die politisch konterrevolutionäre Mobilisierung der halbproletarischen Massen, und es wäre äußerst gefährlich, das Proletariat auf dieses Terrain zu ziehen.

Im Allgemeinen können wir im Ausland eine Kopie des italienischen Faschismus erwarten, der sich mit Äußerungsformen der „demokratischen und pazifistischen Welle“ vermischen wird. Er wird dort jedoch in anderen Formen als in Italien auftreten. Die kapitalistische Reaktion und Offensive der verschiedenen gegen das Proletariat kämpfenden Schichten wird anderswo nicht unter so einheitlicher Leitung stehen wie in Italien.

Es war viel von den italienischen antifaschistischen Auslandsorganisationen die Rede. Diese wurden von emigrierten italienischen Bourgeois geschaffen. Auf der Tagesordnung steht auch die Frage der Beurteilung des italienischen Faschismus seitens der internationalen öffentlichen Meinung, des gegen ihn geführten Propagandafeldzugs seitens der bürgerlichen Länder. In der moralischen Empörung der Bourgeoisie anderer Länder glaubte man sogar ein Mittel zu sehen, um die faschistische Bewegung auszuschalten.

Kommunisten und Revolutionäre dürfen sich keinen Illusionen über den demokratischen und moralischen Gemütszustand der Bourgeoisie in anderen Ländern hingeben. Auch da, wo sich heute noch Pazifismus und linke Tendenzen zeigen, wird der Faschismus morgen schonungslos als Methode des Klassenkampfs benutzt werden. Wir wissen, dass das internationale Kapital sich über die Taten des Faschismus in Italien nur freuen kann, über den Terror, unter dem hier Arbeiter und Bauernschaft stehen.

Für den Kampf gegen den Faschismus können wir einzig und allein auf die revolutionäre proletarische Internationale zählen. Es ist eine Frage des Klassenkampfs. Wir wenden uns nicht an die demokratischen Parteien der anderen Länder, an die Vereinigungen von Dummköpfen und Heuchlern, wie die „Liga für Menschenrechte“, denn wir wollen nicht das Trugbild aufkommen lassen, es handele sich bei ihnen um etwas vom Faschismus wesentlich Verschiedenes, oder die Bourgeoisie der anderen Länder habe Skrupel, ihre Arbeiterschaft denselben Verfolgungen und Gräueltaten auszusetzen wie der Faschismus in Italien.

Für eine Erhebung gegen den italienischen Faschismus und für eine internationale Kampagne gegen den Terror in unserem Lande setzen wir daher einzig und allein auf die revolutionären Kräfte in Italien und anderswo. Die Arbeiter aller Länder sind es, die den italienischen Faschisten das Handwerk legen müssen. Unsere im Verlaufe des Kampfes verfolgten und ins Ausland geflüchteten Genossen werden keinen geringen Anteil an diesem Kampf und der Schaffung einer internationalen antifaschistischen Stimmung im Proletariat haben.

Die Reaktion und der Terror in Italien werden den Klassenhass, die Gegenoffensive des Proletariats hervorbringen, zu einer Zusammenballung der revolutionären Kräfte, zum Kampf auf Weltebene gegen den Faschismus in allen Ländern und alle anderen Formen der bürgerlichen Unterdrückung führen.




(1). Siehe „Bericht zum Faschismus“, 1922.

(2). Giacomo Matteotti war Generalsekretär des Partito Socialista Unitario (PSU) und Abgeordneter des Partito Socialista Italiano (PSI). Er wurde am 10. Juni 1924 durch am 10. Juni 1924 durch die squadristi (Schwarzhemden) ermordet.

(3). Giolitti, Giovanni (1842-1928): Liberaler und Antifaschist, mehrere Male – zwischen Juni 1920 und April 1921 – als Krisenmanager zum Ministerpräsidenten berufen.

(4). Crispi, Francesco (1819-1901): von 1887 mit zwei Unterbrechungen bis 1896 Ministerpräsident. Pelloux, Luigi (1839-1924): General und Politiker. Ging in den 1890er Jahren hart gegen die revolutionären Bewegungen im Süden des Landes vor.

(5). Zanardelli, Giuseppe (1820-1903); von 1881 bis (mit Unterbrechungen) 1891 Justizminister.

(6). Stefani, Alberto De (1879-1969): italienischer Ökonom und Politiker.

(7). Nach dem Korfu-Zwischenfall 1923 besetzte Italien kurzzeitig Korfu.

(8). Farinacci, Roberto (1892-1945): italienischer Politiker, 1919 Gründungsmitglied der „Schwarzhemden“, war „Ras“ in Cremona.

(9). Amendola, Giovanni (1882-1926): Politiker der Liberalen.

(10). D’Annunzio, Gabrielle (1863-1938): Schriftsteller, eine der Leitfiguren des Faschismus; bildete im September 1919 aus Teilen des Heeres ein Freikorps („Arditi“) und putschte in der Adria-Stadt Fiume (Rijeka, Kroatien) gegen das Waffenstillstandsabkommen und erklärte den Anschluss der Region an Italien, um sie für ein italienisches Großreich zu sichern.