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Kommunistischen Internationale
THESEN ÜBER BÜRGERLICHE DEMOKRATIE UND DIKTATUR DES PROLETARIATS |
1. Das Wachstum der revolutionären Bewegung des Proletariats in allen Ländern
hat bei der Bourgeoisie und ihren Agenten in den Arbeiterorganisationen
krampfhafte Bemühungen hervorgerufen, um ideologisch-politische Argumente für
die Verteidigung der Herrschaft der Ausbeuter zu finden. Unter diesen Argumenten
werden die Verurteilung der Diktatur und die Verteidigung der Demokratie
besonders hervorgehoben. Die Verlogenheit und Heuchelei eines solchen Arguments,
das in der kapitalistischen Presse und auf der im Februar 1919 in Bern
abgehaltenen Konferenz der gelben Internationale tausendfältig wiederholt wird,
sind jedem klar, der nicht Verrat an den Grundsätzen des Sozialismus üben will.
2. Vor allem operiert diese Beweisführung mit den Begriffen „Demokratie
überhaupt“ und „Diktatur überhaupt“, ohne danach zu fragen, von welcher Klasse
die Rede ist. Eine solche, außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende,
angeblich volksumfassende Fragestellung ist eine direkte Verhöhnung der
Grundlehre des Sozialismus, nämlich der Lehre vom Klassenkampf, die von den in
das Lager der Bourgeoisie übergegangenen Sozialisten in Worten zwar anerkannt,
in der Praxis aber vergessen wird. Denn in keinem der zivilisierten
kapitalistischen Länder existiert eine „Demokratie überhaupt“, sondern es
existiert nur eine bürgerliche Demokratie, und es ist die Rede nicht von der
„Diktatur überhaupt“, sondern von der Diktatur der unterdrückten Klasse, d. h.
des Proletariats, über die Unterdrücker und Ausbeuter, d. h. über die
Bourgeoisie, zur Überwindung des Widerstands, den die Ausbeuter im Kampf um ihre
Herrschaft leisten.
3. Die Geschichte lehrt, dass noch nie eine unterdrückte Klasse zur Herrschaft gelangt ist und auch nicht gelangen konnte, ohne eine Periode der Diktatur durchzumachen, d. h. der Eroberung der politischen Macht und der gewaltsamen Unterdrückung des verzweifeltsten, wildesten, vor keinem Verbrechen zurückschreckenden Widerstands, der immer von den Ausbeutern geleistet wurde. Die Bourgeoisie, deren Herrschaft jetzt von Sozialisten verteidigt wird, die sich gegen die „Diktatur überhaupt“ aussprechen und mit Leib und Seele für die „Demokratie überhaupt“ eintreten, hat ihre Macht in den fortgeschrittenen Ländern durch eine Reihe von Aufständen, Bürgerkriegen, durch gewaltsame Unterdrückung der Könige, der Feudalherren, der Sklavenhalter und ihrer Restaurierungsversuche erobert. Tausend- und Millionen mal haben die Sozialisten aller Länder in ihren Büchern, Broschüren, in den Resolutionen ihrer Kongresse, in ihren Agitationsreden dem Volke den Klassencharakter dieser bürgerlichen Revolutionen, dieser bürgerlichen Diktatur auseinandergesetzt. Daher ist die jetzige Verteidigung der bürgerlichen Demokratie, die sich hinter den Reden von „Demokratie überhaupt“ verbirgt, und das jetzige Gezeter gegen die Diktatur des Proletariats, das im Geschrei über die „Diktatur überhaupt“ zum Ausdruck kommt, direkter Verrat am Sozialismus und bedeutet faktisch den Übergang ins Lager der Bourgeoisie, die Leugnung des Rechts des Proletariats auf seine, auf die proletarische Revolution, bedeutet die Verteidigung des bürgerlichen Reformismus gerade in dem historischen Augenblick, in dem der bürgerliche Reformismus in der ganzen Welt zusammengebrochen ist und der Krieg eine revolutionäre Situation geschaffen hat.
4. Alle Sozialisten haben, wenn sie den Klassencharakter der bürgerlichen Zivilisation, der bürgerlichen Demokratie, des bürgerlichen Parlamentarismus erläuterten, den Gedanken ausgesprochen, der mit der größten wissenschaftlichen Genauigkeit von Marx und Engels durch die Worteausgedrückt wurde, dass auch die demokratischste bürgerliche Republik nichts anderes ist als eine Maschine zur Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie, der Masse der Werktätigen durch eine Handvoll Kapitalisten. Es gibt nicht einen Revolutionär, nicht einen Marxisten unter denen, die jetzt ein Geschrei gegen die Diktatur erheben und für die Demokratie eintreten, der vor den Arbeitern nicht hoch und heilig geschworen hätte, dass er diese Grundwahrheit des Sozialismus anerkenne; jetzt aber, wo unter dem revolutionären Proletariat eine Gärung und Bewegung begonnen hat, die darauf gerichtet ist, diese Unterdrückungsmaschine zu zerschlagen und die Diktatur des Proletariats zu erkämpfen, stellen diese Verräter am Sozialismus die Sache so dar, als ob die Bourgeoisie den Werktätigen die „reine Demokratie“ geschenkt hätte, als ob die Bourgeoisie auf Widerstand verzichte und gewillt sei, sich der Mehrheit der Werktätigen zu unterwerfen, als ob es in der demokratischen Republik keine Staatsmaschine zur Unterdrückung der Arbeit durch das Kapital gegeben hätte und gäbe.
5. Die Pariser Kommune, die in Worten von allen, die als Sozialisten gelten wollen, gefeiert wird, da sie wissen, dass die Arbeitermassen große und aufrichtige Sympathie für sie haben, hat besonders deutlich die historische Bedingtheit und den begrenzten Wert des bürgerlichen Parlamentarismus und der bürgerlichen Demokratie gezeigt, die zwar im Vergleich zum Mittelalter höchst fortschrittliche Einrichtungen darstellen, in der Epoche der proletarischen Revolution aber unvermeidlich eine radikale Veränderung erfordern. Gerade Marx, der die historische Bedeutung der Kommune am besten einzuschätzen wusste, hat in seiner Analyse derselben den ausbeuterischen Charakter der bürgerlichen Demokratie und des bürgerlichen Parlamentarismus nachgewiesen, bei denen die unterdrückten Klassen das Recht erhalten, einmal im Laufe mehrerer Jahre zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament „ver- und zertreten“ soll. Gerade jetzt, wo die Rätebewegung, die die ganze Welt ergreift, vor aller Augen die Sache der Kommune weiterführt, vergessen die Verräter am Sozialismus die konkrete Erfahrung und die konkreten Lehren der Pariser Kommune und wiederholen den alten bürgerlichen Plunder von der „Demokratie überhaupt“. Die Kommune war eine nichtparlamentarische Einrichtung.
6. Die Bedeutung der Kommune besteht ferner darin, dass sie den Versuch unternommen hat, den bürgerlichen Staatsapparat, den Beamten-, Gerichts-, Militär- und Polizeiapparat zu zertrümmern und bis auf den Grund zu zerstören und ihn durch eine sich selbst verwaltende Massenorganisation der Arbeiter zu ersetzen, die keine Trennung der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt kannte. Alle bürgerlich-demokratischen Republiken unserer Zeit, darunter die deutsche, die von den Verrätern am Sozialismus unter Verhöhnung der Wahrheit als proletarische bezeichnet wird, behalten diesen Staatsapparat bei. Das beweist immer und immer wie in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Verteidigung der Bourgeoisie und ihrer Ausbeuterprivilegien.
7. Die „Versammlungsfreiheit“ kann als Musterbeispiel einer Forderung der „reinen Demokratie“ angeführt werden. Jeder bewusste Arbeiter, der mit seiner Klasse nicht gebrochen hat, versteht sofort, dass es ein Unding wäre, den Ausbeutern die Versammlungsfreiheit für die Periode und Situation zu versprechen, in der die Ausbeuter sich ihrem Sturz widersetzen und ihre Vorrechte verteidigen. Die Bourgeoisie hat, als sie revolutionär war, weder in England im Jahre 1649 noch in Frankreich im Jahre 1793 den Monarchisten und Adligen „Versammlungsfreiheit“ gewährt, als diese ausländische Truppen ins Land riefen und sich „versammelten“, um einen Restaurierungsversuch zu organisieren. Wenn die jetzige Bourgeoisie, die längst reaktionär geworden ist, vom Proletariat fordert, es solle im Voraus garantieren, dass den Ausbeutern ohne Rücksicht darauf, welchen Widerstand die Kapitalisten ihrer Enteignung entgegensetzen werden, „Versammlungsfreiheit“ gewährt wird, so werden die Arbeiter über eine solche Heuchelei der Bourgeoisie nur lachen.
Anderseits wissen die Arbeiter sehr gut, dass die „Versammlungsfreiheit“ sogar in der demokratischsten bürgerlichen Republik eine leere Phrase ist, denn die Reichen haben die besten öffentlichen und privaten Gebäude zu ihrer Verfügung, sie haben auch genügend Muße für Versammlungen, und diese genießen den Schutz des bürgerlichen Machtapparats. Die Stadt- und Dorfproletarier sowie die Kleinbauern, d. h. die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung, haben weder das eine noch das andere, noch das dritte. Solange das so bleibt, ist die „Gleichheit“, d. h. die „reine Demokratie“, ein Betrug. Um die wirkliche Gleichheit zu erobern, um die Demokratie tatsächlich für die Werktätigen zu verwirklichen, muss man zuerst den Ausbeutern alle öffentlichen und privaten Prachtbauten wegnehmen, zuerst den Werktätigen Muße verschaffen, muss die Freiheit ihrer Versammlungen von bewaffneten Arbeitern, nicht aber von Söhnen des Adels oder von Offizieren aus kapitalistischen Kreisen mit eingeschüchterten Soldaten verteidigt werden.
Erst nach einer solchen Änderung kann man, ohne die Arbeiter, das werktätige Volk, die Armen zu verhöhnen, von Versammlungsfreiheit, von Gleichheit sprechen. Diese Änderung aber kann niemand anders vollziehen als die Vorhut der Werktätigen, das Proletariat, indem es die Ausbeuter, die Bourgeoisie, stürzt.
8. Die „Pressefreiheit“ ist auch eine der Hauptlosungen der „reinen Demokratie“. Aber wiederum wissen die Arbeiter, und die Sozialisten aller Länder haben es Millionen Mal gesagt, dass diese Freiheit Betrug ist, solange die besten Druckereien und die größten Papiervorräte sich in den Händen der Kapitalisten befinden und solange die Macht des Kapitals über die Presse bestehen bleibt, eine Macht, die sich in der ganzen Welt umso deutlicher und schärfer, um so zynischer äußert, je entwickelter der Demokratismus und das republikanische Regime sind, wie zum Beispiel in Amerika. Um wirkliche Gleichheit und wirkliche Demokratie für die Werktätigen, für die Arbeiter und Bauern zu erobern, muss man zuerst dem Kapital die Möglichkeit nehmen, Schriftsteller zu dingen, Verlagsanstalten anzukaufen und Zeitungen zu bestechen. Doch dazu ist es notwendig, das Joch des Kapitals abzuschütteln, die Ausbeuter zu stürzen und ihren Widerstand zu unterdrücken. Die Kapitalisten bezeichneten stets als „Freiheit“ die Freiheit für die Reichen, Profit zu machen, und die Freiheit für die Arbeiter, Hungers zu sterben. Die Kapitalisten bezeichnen als Pressefreiheit die Freiheit für die Reichen, die Presse zu bestechen, die Freiheit, den Reichtum zur Fabrikation und Verfälschung der sogenannten öffentlichen Meinung auszunutzen. Die Verteidiger der „reinen Demokratie“ erweisen sich wiederum in Wirklichkeit als die Verteidiger des schmutzigsten und korruptesten Systems der Herrschaft der Reichen über die Mittel zur Aufklärung der Massen, als Betrüger des Volkes, die es mit schönklingenden, indes durch und durch verlogenen Phrasen ablenken von der konkreten historischen Aufgabe der Befreiung der Presse aus der Knechtschaft des Kapitals. Wirkliche Freiheit und Gleichheit wird die Ordnung bringen, welche die Kommunisten errichten und in der es keine Möglichkeit geben wird, sich auf fremde Kosten zu bereichern, keine objektive Möglichkeit, direkt oder indirekt die Presse der Macht des Geldes zu unterwerfen, wo nichts dem im Wege stehen wird, dass jeder Werktätige (oder eine beliebig große Gruppe von Werktätigen) das gleiche Recht auf Benutzung der der Gesellschaft gehörenden Druckereien und Papiervorräte besitzt und verwirklicht.
9. Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hat uns noch vor dem Kriege gezeigt, was die vielgerühmte „reine Demokratie“ im Kapitalismus in Wirklichkeit ist. Die Marxisten haben immer behauptet, je entwickelter, je „reiner“ die Demokratie ist, desto unverhüllter, schärfer, schonungsloser gestaltet sich der Klassenkampf, desto „reiner“ tritt der Druck des Kapitals und die Diktatur der Bourgeoisie hervor. Die Affäre Dreyfus im republikanischen Frankreich, die blutige Abrechnung der von den Kapitalisten bewaffneten Söldnertrupps mit den streikenden Arbeitern in der freien und demokratischen Republik Amerika, diese und tausend ähnliche Tatsachen enthüllen die Wahrheit, die zu verdecken die Bourgeoisie sich vergeblich bemüht, nämlich, dass in den demokratischsten Republiken in Wirklichkeit der Terror und die Diktatur der Bourgeoisie herrschen und jedes Mal offen zutage treten, wenn den Ausbeutern die Macht des Kapitals ins Wanken zu geraten scheint.
10. Der imperialistische Krieg 1914-1918 hat ein für allemal auch den rückständigen Arbeitern diesen wahren Charakter der bürgerlichen Demokratie sogar in den freiesten Republiken als Diktatur der Bourgeoisie enthüllt. Um der Bereicherung der deutschen oder der englischen Gruppe von Millionären und Milliardären willen wurden Millionen und aber Millionen Menschen hingemordet, und in den freiesten Republiken ist die Militärdiktatur der Bourgeoisie errichtet worden. Diese Militärdiktatur bleibt in den Ländern der Entente auch nach der Niederwerfung Deutschlands weiterbestehen. Gerade der Krieg hat den Werktätigen mehr als alles andere die Augen geöffnet, hat der bürgerlichen Demokratie den falschen Flitter heruntergerissen und dem Volke den ganzen Abgrund von Spekulation und Gewinnsucht während des Krieges und im Zusammenhang mit dem Kriege gezeigt. Die Bourgeoisie hat diesen Krieg im Namen der „Freiheit und Gleichheit“ geführt, im Namen der „Freiheit und Gleichheit“ haben sich die Kriegslieferanten unerhört bereichert. Keine Bemühungen der gelben Berner Internationale werden imstande sein, den jetzt endgültig entlarvten ausbeuterischen Charakter der bürgerlichen Freiheit, der bürgerlichen Gleichheit und der bürgerlichen Demokratie vor den Massen zu verbergen.
11. In dem am meisten entwickelten kapitalistischen Lande des europäischen Kontinents, nämlich in Deutschland, haben schon die ersten Monate der vollen republikanischen Freiheit, die das Ergebnis der Niederwerfung des imperialistischen Deutschlands ist, den deutschen Arbeitern und der ganzen Welt gezeigt, worin der wirkliche Klasseninhalt der bürgerlich-demokratischen Republik besteht. Die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ist ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung nicht nur deswegen, weil die besten Menschen und Führer der wirklich proletarischen, der Kommunistischen Internationale tragisch umgekommen sind, sondern auch deswegen, weil der Klassencharakter eines fortgeschrittenen europäischen Staates – und man kann ohne Übertreibung sagen: eines im Weltmaßstab fortgeschrittenen Staates – sich endgültig offenbart hat. Wenn Verhaftete, d. h. unter den Schutz des Staates gestellte Menschen, unter einer Regierung, die aus Sozialpatrioten besteht, von Offizieren und Kapitalisten ungestraft ermordet werden konnten, so ist folglich die demokratische Republik, in der sich dies ereignen konnte, eine Diktatur der Bourgeoisie. Leute, die ihrer Entrüstung über die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Ausdruck geben, diese Wahrheit aber nicht begreifen, beweisen damit nur ihre Stumpfsinnigkeit oder ihre Heuchelei. „Freiheit“ bedeutet in einer der freiesten und fortgeschrittensten Republiken der Welt, in der deutschen Republik, die Freiheit, die verhafteten Führer des Proletariats ungestraft zu ermorden. Und das kann nicht anders sein, solange der Kapitalismus sich behauptet, da die Entwicklung des Demokratismus den Klassenkampf, der infolge des Krieges und seiner Auswirkungen auf dem Siedepunkt angelangt ist, nicht abschwächt, sondern verschärft.
In der ganzen zivilisierten Welt werden jetzt Bolschewiki ausgewiesen, verfolgt und eingekerkert, wie zum Beispiel in einer der freiesten bürgerlichen Republiken, in der Schweiz, oder die Pogrome gegen Bolschewiki in Amerika u. dgl. m. Vom Gesichtspunkt der „Demokratie überhaupt“ oder der „reinen Demokratie“ ist es einfach lächerlich, dass fortgeschrittene, zivilisierte, demokratische, bis an die Zähne bewaffnete Länder sich vor der Anwesenheit von einigen Dutzend Leuten aus dem rückständigen, hungernden, ruinierten Russland fürchten, das die bürgerlichen Zeitungen in Millionen und aber Millionen von Exemplaren wild, verbrecherisch usw. nennen. Es ist klar, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, die solch einen schreienden Widerspruch hervorbringen konnten, in Wirklichkeit eine Diktatur der Bourgeoisie sind.
12. Bei einer solchen Lage der Dinge ist die Diktatur des Proletariats nicht nur völlig gerechtfertigt als Mittel zum Sturz der Ausbeuter und zur Unterdrückung ihres Widerstands, sondern auch absolut notwendig für die ganze Masse der Werktätigen als einziger Schutz gegen die Diktatur der Bourgeoisie, die zum Krieg geführt hat und neue Kriege vorbereitet.
Was die Sozialisten vor allem nicht verstehen und was ihre theoretische Kurzsichtigkeit, ihr Verharren im Banne bürgerlicher Vorurteile, ihren politischen Verrat am Proletariat ausmacht, ist, dass es in der kapitalistischen Gesellschaft bei einer einigermaßen ernstlichen Verschärfung des Klassenkampfes, auf dem diese Gesellschaft begründet ist, kein Mittelding geben kann zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats. Jeder Traum von irgendetwas Drittem ist reaktionäre Lamentation eines Kleinbürgers. Davon zeugt die Erfahrung einer mehr als hundertjährigen Entwicklung der bürgerlichen Demokratie und der Arbeiterbewegung in allen fortgeschrittenen Ländern und besonders die Erfahrung der letzten fünf Jahre. Dafür spricht auch die ganze Wissenschaft der politischen Ökonomie, der ganze Inhalt des Marxismus, der die ökonomische Notwendigkeit der Diktatur der Bourgeoisie bei jeder Warenwirtschaft darlegt, einer Diktatur, die von niemand als von der Klasse, die sich durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst entwickelt, vermehrt, zusammenschließt und kräftigt, d. h. von der Klasse der Proletarier, beseitigt werden kann.
13. Der zweite theoretische und politische Fehler der Sozialisten besteht darin, dass sie nicht verstehen, dass die Formen der Demokratie im Laufe der Jahrtausende, angefangen von ihren Keimen im Altertum, einander unvermeidlich abgelöst haben in dem Maße, wie eine herrschende Klasse die andere ablöste. In den Republiken des alten Griechenlands, in den Städten des Mittelalters, in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten hat die Demokratie verschiedene Formen und verschiedene Ausdehnung. Es wäre der größte Unsinn, anzunehmen, dass die tiefstgreifende Revolution in der Geschichte der Menschheit, bei der zum ersten Mal in der Welt die Macht von der ausbeutenden Minderheit an die ausgebeutete Mehrheit übergeht, sich im alten Rahmen der alten, bürgerlichen, parlamentarischen Demokratie vollziehen kann, dass sie sich ohne umwälzende Veränderungen vollziehen kann, ohne neue Formen der Demokratie, neue Institutionen zu schaffen, die die neuen Bedingungen für ihre Anwendung verkörpern usw.
14. Die Diktatur des Proletariats ist dadurch der Diktatur anderer Klassen ähnlich, dass sie, wie jede andere Diktatur, durch die Notwendigkeit hervorgerufen wird, den Widerstand der Klasse, die ihre politische Macht verliert, gewaltsam zu unterdrücken. Der grundlegende Unterschied der Diktatur des Proletariats von der Diktatur der anderen Klassen, von der Diktatur der Gutsherren im Mittelalter, von der Diktatur der Bourgeoisie in allen zivilisierten kapitalistischen Ländern, besteht darin, dass die Diktatur der Gutsherren und der Bourgeoisie eine gewaltsame Unterdrückung des Widerstands der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, nämlich der Werktätigen war. Im Gegensatz dazu ist die Diktatur des Proletariats die gewaltsame Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter, d. h. einer verschwindenden Minderheit der Bevölkerung, der Gutsbesitzer und Kapitalisten.
Hieraus wiederum ergibt sich, dass die Diktatur des Proletariats unweigerlich nicht nur, allgemein gesprochen, eine Veränderung der Formen und Institutionen der Demokratie mit sich bringen muss, sondern eine solche Veränderung derselben, dass die vom Kapitalismus Geknechteten, dass die werktätigen Klassen in einem in der Welt noch nie gesehenen Maße die Demokratie tatsächlich ausnutzen.
Und wirklich, die Form der Diktatur des Proletariats, die schon praktisch ausgearbeitet ist, d. h. die Sowjetmacht in Russland, das Rätesystem in Deutschland, die Shop Stewards Committees und andere analoge Sowjetinstitutionen in anderen Ländern, sie alle bedeuten und verwirklichen eben für die werktätigen Klassen, d. h. für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, eine solche praktische Möglichkeit, sich der demokratischen Rechte und Freiheiten zu bedienen, wie es sie noch niemals auch nur annähernd in den besten und demokratischsten bürgerlichen Republiken gegeben hat.
Das Wesen der Sowjetmacht besteht darin, dass die Massenorganisation eben der Klassen, die vom Kapitalismus unterdrückt wurden, d. h. der Arbeiter und Halbproletarier (der Bauern, die keine fremde Arbeit ausbeuten und die dauernd zum Verkauf wenigstens eines Teils ihrer Arbeitskraft gezwungen sind), die ständige und einzige Grundlage der gesamten Staatsmacht, des gesamten Staatsapparats ist. Eben diese Massen, die selbst in den demokratischsten bürgerlichen Republiken, in denen sie vor dem Gesetz gleichberechtigt waren, in Wirklichkeit aber durch tausenderlei Mittel und Kniffe von der Beteiligung am politischen Leben und vom Gebrauch der demokratischen Rechte und Freiheiten ferngehalten wurden, werden jetzt zur ständigen, unbedingten und dabei entscheidenden Beteiligung an der demokratischen Verwaltung des Staates herangezogen!
15. Die Gleichheit der Bürger ohne Rücksicht auf Geschlecht, Konfession, Rasse, Nationalität, die die bürgerliche Demokratie immer und überall versprochen, aber nirgends durchgeführt hat und wegen der Herrschaft des Kapitalismus auch nicht durchführen konnte, wird von der Sowjetmacht, oder der Diktatur des Proletariats, sofort und vollständig verwirklicht, denn dazu ist nur die Macht der Arbeiter imstande, die nicht am Privateigentum an den Produktionsmitteln und am Kampf um ihre Verteilung und Neuverteilung interessiert sind.
16. Die alte, d. h. die bürgerliche Demokratie und der Parlamentarismus waren so organisiert, dass gerade die werktätigen Massen dem Verwaltungsapparat am meisten entfremdet wurden. Die Sowjetmacht, d. h. die Diktatur des Proletariats, ist dagegen so organisiert, dass sie die werktätigen Massen dem Verwaltungsapparat näherbringt. Dem gleichen Zweck dient auch die Vereinigung der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt bei der Sowjetorganisation des Staates und die Ersetzung der territorialen Wahlkreise durch Produktionseinheiten, wie Werke, Fabriken.
17. Das Heer war ein Apparat zur Unterdrückung nicht nur in der Monarchie; es blieb ein solcher auch in allen bürgerlichen, sogar den demokratischsten Republiken. Nur die Sowjetmacht als ständige Staatsorganisation eben der durch den Kapitalismus unterdrückten Klassen ist imstande, die Unterordnung des Heeres unter die bürgerliche Kommandogewalt aufzuheben und das Proletariat wirklich mit dem Heer zu verschmelzen, die Bewaffnung des Proletariats und die Entwaffnung der Bourgeoisie wirklich durchzuführen, weil sonst der Sieg des Sozialismus unmöglich ist.
18. Die Sowjetorganisation des Staates ist der führenden Rolle des Proletariats, als der durch den Kapitalismus am meisten konzentrierten und aufgeklärten Klasse, angepasst. Die Erfahrungen aller Revolutionen und aller Bewegungen der unterdrückten Klassen, die Erfahrungen der sozialistischen Weltbewegung lehren uns, dass nur das Proletariat imstande ist, die zersplitterten und rückständigen Schichten der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung zu vereinigen und voranzuführen.
19. Nur die Sowjetorganisation des Staates ist imstande, den alten, d. h. den bürgerlichen Beamten- und Justizapparat, der im Kapitalismus sogar in den demokratischsten Republiken bestehen blieb und unbedingt bestehen bleiben musste, da er faktisch das größte Hindernis für die Durchführung des Demokratismus für die Arbeiter und Werktätigen war, wirklich sofort zu zerschlagen und endgültig zu zerstören. Die Pariser Kommune hat den ersten welthistorischen Schritt auf diesem Wege getan, die Sowjetmacht den zweiten.
20. Die Aufhebung der Staatsmacht ist das Ziel, das sich alle Sozialisten gestellt haben, unter ihnen und an ihrer Spitze Marx. Ohne Verwirklichung dieses Ziels ist der wahre Demokratismus, d. h. Gleichheit und Freiheit, nicht erreichbar. Zu diesem Ziel aber führt praktisch nur die sowjetische, oder proletarische, Demokratie, denn sie geht sofort daran, das völlige Absterben jeglichen Staates vorzubereiten, indem sie die Massenorganisationen der Werktätigen zur ständigen und unbedingten Teilnahme an der Verwaltung des Staats heranzieht.
21. Der völlige Bankrott der Sozialisten, die sich in Bern versammelt hatten, ihr völliges Unverständnis für die neue, d. h. die proletarische Demokratie, ist besonders aus folgendem zu ersehen: Am 10. Februar 1919 hat Branting in Bern die internationale Konferenz der gelben Internationale für geschlossen erklärt. Am 11. Februar 1919 haben ihre Teilnehmer in Berlin in der Zeitung „Die Freiheit“ einen Aufruf der Partei der „Unabhängigen“ an das Proletariat veröffentlicht. In diesem Aufruf wird der bürgerliche Charakter der Regierung Scheidemann zugegeben, es wird ihr vorgeworfen, sie wolle die Räte beseitigen, die Träger und Schützer der Revolution genannt werden, und der Vorschlag gemacht, die Räte zu legalisieren, ihnen staatliche Rechte zu verleihen, ihnen das Recht des Einspruchs gegen Beschlüsse der Nationalversammlung zu geben mit der Wirkung, dass eine Volksabstimmung zu entscheiden hat.
Ein solcher Vorschlag offenbart den völligen ideologischen Bankrott der Theoretiker, die die Demokratie verteidigt und ihren bürgerlichen Charakter nicht verstanden haben. Der lächerliche Versuch, das Rätesystem, d. h. die Diktatur des Proletariats, mit der Nationalversammlung, d. h. mit der Diktatur der Bourgeoisie, zu vereinigen, enthüllt endgültig sowohl die Geistesarmut der gelben Sozialisten und Sozialdemokraten und ihr politisch kleinbürgerlich-reaktionäres Wesen als auch ihre feigen Konzessionen an die unaufhaltsam wachsenden Kräfte der neuen, proletarischen Demokratie.
22. Die Mehrheit der gelben Internationale in Bern, die den Bolschewismus verurteilt, aber aus Furcht vor den Arbeitermassen nicht gewagt hat, eine entsprechende Resolution formell zur Abstimmung zu bringen, hat vom Klassenstandpunkt aus richtig gehandelt. Gerade diese Mehrheit ist völlig solidarisch mit den russischen Menschewiki und Sozialrevolutionären sowie mit den Scheidemännern in Deutschland. Die russischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich über die Verfolgungen durch die Bolschewiki beschweren, suchen die Tatsache zu verheimlichen, dass diese Verfolgungen durch die Teilnahme der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre am Bürgerkrieg auf Seiten der Bourgeoisie gegen das Proletariat hervorgerufen wurden. Geradeso haben in Deutschland die Scheidemänner und ihre Partei schon ihre Teilnahme am Bürgerkrieg auf Seiten der Bourgeoisie gegen die Arbeiter unter Beweis gestellt.
Es ist daher ganz natürlich, dass sich die Mehrzahl der Teilnehmer an der Berner gelben Internationale für die Verurteilung der Bolschewiki ausgesprochen hat. Darin ist aber nicht die Verteidigung der „reinen Demokratie“, sondern die Selbstverteidigung von Leuten zum Ausdruck gekommen, die wissen und fühlen, dass sie im Bürgerkrieg auf Seiten der Bourgeoisie gegen das Proletariat stehen.
Daher muss man den Beschluss der Mehrheit der gelben Internationale als vom Klassenstandpunkt aus richtig bezeichnen. Das Proletariat darf aber die Wahrheit nicht fürchten, sondern muss ihr offen ins Auge schauen und hieraus alle politischen Schlussfolgerungen ziehen.