Internationale Komunistische Partei Das invariante und einheitliche Werk der Partei

 

Kommunistische Internationale
4. Kongress – November 1922  

 

BERICHT DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI ITALIENS ZUM FASCHISMUS

 

(Nach dem Hinweis darauf, dass die Ereignisse in Italien es unmöglich gemacht haben, direkte Verbindungen mit Italien zu halten und dass es noch auf einen Bericht von Togliatti über die neuesten Entwicklungen der Situation wartete, und da in der Diskussion der italienischen Frage wir wieder am Rande des praktischen Haltung der Partei angesichts des Faschismus kommen werden, wendet sich der Redner dem Thema der Entstehung der faschistischen Bewegung zu).
 

Was den sozusagen unmittelbaren und äußeren Ursprung der Faschistenbewegung anbelangt, geht dieser auf die Jahre 1914/15 zurück, der Periode vor dem Eintritt Italiens in den Weltkrieg. Die ersten Schritte taten eben jene Gruppen, die diese Intervention unterstützten und aus Vertretern verschiedener politischer Tendenzen bestanden. Es gab eine Rechtsgruppe um Salandra (1), d.h. der Großindustriellen, die den Krieg wollten und, bevor sie den Eintritt an der Seite der Entente forderten, einen Krieg gegen die Entente befürwortet hatten. Auf der anderen Seite gab es auch Strömungen der linken Bourgeoisie: die italienischen Radikalen, d.h. die linken Demokraten und die Republikaner, seit jeher Anhänger der “Befreiung“ Triests und Trients. An dritter Stelle sind bei den Befürwortern des Kriegseintritts gewisse Strömungen der Arbeiterbewegung zu nennen: revolutionäre Syndikalisten und Anarchisten. Zu diesen Gruppen gehörte namentlich – auch wenn es sich hier nur um eine Person handelt, kommt ihr doch eine besondere Bedeutung zu – der Führer des linken Flügels der Sozialistischen Partei: Mussolini, Chefredakteur des Parteiorgans “Avanti!“.

Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass die linken Demokraten und Republikaner im Rahmen der traditionellen bürgerlichen Politik verblieben und nicht bei der faschistischen Bewegung mitmachten. Die Bewegung der “Kampfbünde“ bestand aus Gruppen der extremen Rechten und ferner der extremen Linken: ex-anarchistische, ex-syndikalistische Elemente und ex-revolutionäre Syndikalisten. Diese politischen Gruppen, die im Mai 1915 einen großen Sieg errungen hatten, als sie gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit und selbst des Parlaments, das dem plötzlichen Handstreich nichts entgegen zu setzen hatte, dem Lande den Krieg aufzwangen, sahen nach Kriegsende ihren Einfluss schwinden, was übrigens auch schon während des Krieges festzustellen gewesen war. Sie hatten den Krieg als ein einfaches Unterfangen hingestellt; als er sich jedoch in die Länge zog, büßten diese Gruppen ihre ohnehin geringe Popularität vollends ein. Unmittelbar nach dem Krieg sank der Einfluss dieser Gruppen auf ein Minimum.

Während und nach der Demobilisierungsphase gegen Ende des Jahres 1918, während des Jahres 1919 und in der ersten Hälfte 1920 hatte diese politische Richtung inmitten der durch die Folgen des Krieges hervorgerufenen allgemeinen sozialen Gärung überhaupt kein Gewicht mehr. Dennoch lässt sich der politische und organische Zusammenhang dieser damals schon fast erloschen scheinenden Bewegung mit der mächtigen Bewegung, die sich heute vor unseren Augen ausbreitet, leicht ausmachen.

Die “Fasci di Combattimento“ sind nie aufgelöst worden; der Führer der faschistischen Bewegung ist nach wie vor Mussolini, ihr Sprachrohr “Il Popolo d’Italia“. Bei den Wahlen, Ende Oktober 1919, wurden die Faschisten in Mailand, wo ihre Tageszeitung erschien und wo sich ihr politischer Führer aufhielt, vollständig geschlagen. Sie erhielten eine verschwindend niedrige Stimmenzahl; doch das hieß nicht, dass sie ihre Aktivitäten einstellten.

Die revolutionäre sozialistische Richtung des Proletariats war dank der revolutionären Begeisterung, die sich der Massen bemächtigt hatte – die Gründe dafür brauche ich hier nicht weiter auseinanderzusetzen –, in der Nachkriegsperiode bedeutend stärker geworden, aber es gelang ihr nicht, diese Situation zu nutzen. Die Reihen dieser Strömung lichteten sich, weil es trotz der für eine revolutionäre Organisation günstigen objektiven und psychologischen Bedingungen keine Partei ab, die imstande gewesen wäre, darauf eine feste Organisation zu errichten. Ich behaupte nicht, dass die Sozialistische Partei in Italien – wie Genosse Sinowjew dieser Tage sagte – die Revolution hätte machen können, sie hätte es jedoch zumindest schaffen müssen, den revolutionären Kräften der Arbeiter eine feste Organisation zu geben. Sie war dieser Aufgabe jedoch nicht gewachsen. Wir mussten so erleben, wie die sozialistische Strömung, die sich dem Krieg widersetzt hatte, ihr Ansehen immer mehr einbüßte.

In dem Maße, wie die sozialistische Bewegung in der Periode der sozialen Krise einen Fehler nach dem anderen machte, begann der Faschismus stärker zu werden. Insbesondere gelang es dem Faschismus, die sich in dieser wirtschaftlichen Lage abzeichnende Krise auszunutzen, deren Wirkung sich auch in der gewerkschaftlichen Organisation des Proletariats niederzuschlagen begann. Ferner fand die Faschistenbewegung im heikelsten Augenblick eine Stütze in dem Unternehmen D‘Annunzios, Fiume zu besetzen. Aus ihm schöpfte der Faschismus eine gewisse moralische Kraft und dort entstanden auch, obgleich die Bewegung D’Annunzios und der Faschismus zweierlei Dinge sind, seine Organisation und seine bewaffnete Macht.

Wir haben über die Haltung der sozialistischen Arbeiterbewegung gesprochen; die Internationale hat wiederholt an ihren Fehlern Kritik geübt. Infolge dieser Fehler ist die Stimmung bei der Bourgeoisie ebenso wie bei den anderen Klassen völlig umgeschlagen. Die Stimmung in der Arbeiterklasse, als sie den Sieg ihren Händen entgleiten sah, hat sich völlig verändert, sie ist desorientiert und demoralisiert. Man kann wohl sagen, dass sich die italienische Bourgeoisie im Jahre 1919 und in der ersten Hälfte 1920 schon mit dem Sieg der Revolution abgefunden hatte. In der Mittelklasse und dem Kleinbürgertum hatte sich die Neigung bemerkbar gemacht, eine passive Rolle zu spielen, nicht etwa gegenüber der Großbourgeoisie, sondern gegenüber dem Proletariat, das dabei war, den Sieg zu erringen. Diese Stimmung hat sich jetzt radikal verändert. Statt Zeugen des Sieges des Proletariats zu sein, sehen wir, wie sich die Bourgeoisie zur Verteidigung bereit macht. Als sie sah, dass sich die Sozialistische Partei nicht so zu organisieren verstand, dass sie die Oberhand gewinnen konnte, machte die Mittelklasse ihrer eigenen Unzufriedenheit Luft; sie verlor nach und nach ihr auf die Erfolge des Proletariats gesetztes Vertrauen und wandte sich der Gegenseite zu. Und just in diesem Moment setzte die kapitalistische Offensive der Bourgeoisie ein, wobei hauptsächlich die Stimmung ausgenutzt wurde, die sich in den Mittelklassen breit gemacht hatte. Dank seiner äußerst heterogenen Zusammensetzung bot der Faschismus die Lösung des Problems, indem er die Mittelklassen für die kapitalistische Offensive mobilisierte. Das italienische Beispiel ist geradezu klassisch für die Offensive des Kapitals; sie bildet, wie Genosse Radek gestern von dieser Tribüne aus sagte, ein komplexes Phänomen, das nicht nur hinsichtlich der Frage der Lohnsenkungen und der Verlängerung der Arbeitszeit, sondern auch auf der allgemeinen Ebene des politischen und militärischen Handelns der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse untersucht werden muss.

In Italien haben wir während der Konstituierungsphase des Faschismus alle Erscheinungsformen der kapitalistischen Offensive erlebt. Wenn wir diese Offensive als Ganzes betrachten wollen, müssen wir die Lage in ihren allgemeinen Zügen, und zwar einerseits in der Industrie, andererseits in der Landwirtschaft untersuchen.

Vor allem in der Industrie wird die wirtschaftliche Situation direkt durch die kapitalistische Offensive ausgenutzt. Die Krise beginnt und damit die Arbeitslosigkeit. Ein Teil der Arbeiter soll entlassen werden und die Arbeitgeber haben leichtes Spiel, denn sie können die Gewerkschafter, wie überhaupt die radikalen Arbeiter, aus den Betrieben jagen. Die industrielle Krise bietet den Arbeitgebern die Gelegenheit, die Löhne zu drücken und die Zurücknahme der betriebsinternen und moralischen Zugeständnisse zu verlangen, die ihnen die Arbeiter zuvor abgetrotzt hatten. Zu Beginn dieser Krise entsteht in Italien der Allgemeine Industrieverband (Confederazione Generale d’Industria), der Klassenverband der Arbeitgeber, der ihren Kampf lenkt und das Vorgehen jedes einzelnen Industriezweiges seiner Leitung unterstellt.

In den Großstädten konnte der Kampf gegen die Arbeiterklasse nicht gleich mit Waffengewalt einsetzen. Da die städtischen Arbeiter sehr zahlreich sind, können sie sich relativ leicht sammeln und ernsthaften Widerstand leisten. Man zwang dem Proletariat daher lieber gewerkschaftliche Kämpfe auf, denen im Allgemeinen kein Erfolg beschieden war, weil die wirtschaftliche Krise immer noch akut war und die Arbeitslosigkeit weiter um sich griff. Die einzige Möglichkeit, die sich in der Industrie entwickelnden wirtschaftlichen Kämpfe siegreich zu bestehen, konnte nur darin bestehen, die Aktivität von der Gewerkschaftsebene auf das Terrain der revolutionären Aktion zu bringen, die Diktatur einer wahren politischen Kommunistischen Partei zu verwirklichen. Aber die SPI war keine derartige Partei und verstand es nicht, im entscheidenden Moment den Kampf des italienischen Proletariats auf das revolutionäre Terrain zu ziehen. Die Phase der großen Erfolge der Gewerkschaftsorganisation im Kampfe um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen machte einer neuen Phase Platz, in der die Kämpfe zu Defensivstreiks der Arbeiterklasse wurden und die Gewerkschaften eine Niederlage nach der anderen einsteckten.

Da in der revolutionären Bewegung in Italien die landwirtschaftlichen Klassen, besonders die proletarischen Landarbeiter und auch jene Schichten, die nicht vollständig proletarisiert sind, großes Gewicht haben, sahen sich die herrschenden Klassen gezwungen, gegen den Einfluss, den die roten Organisationen auf dem Lande erlangt hatten, vorzugehen. Die Situation, die wir in einem großen Teil Italiens, in dem vom landwirtschaftlichen Gesichtspunkt aus wichtigsten Teil: der Po-Ebene, vor uns hatten, sah einer lokalen Diktatur des Proletariats oder wenigstens der Landarbeiter sehr ähnlich. Dort hatte die SPI Ende 1920 viele Gemeinden erobert, die eine gegen die Agrarbourgeoisie und den Mittelstand gerichtete Steuerpolitik praktizierten. Es gab blühende Gewerkschaftsorganisationen, bedeutende Genossenschaften und zahlreiche Sektionen der Sozialistischen Partei. Und selbst dort, wo sich die Bewegung in der Hand der Reformisten befand, nahm die Arbeiterklasse des flachen Landes eine revolutionäre Haltung ein. Sie zwang die Arbeitgeber zur Abgabe eines bestimmten Betrags an ihre Organisation, was ihr eine gewisse Garantie gab, die im Gewerkschaftskampf aufgezwungenen Verträge einzuhalten. Es entstand eine Lage, in der die Agrarbourgeoisie nicht mehr in Ruhe auf dem Lande leben konnte und gezwungen war, sich in die Städte zurückzuziehen. Aber die italienischen Sozialisten begingen eine Reihe von Fehlern, und zwar namentlich in der Frage der Aneignung des Bodens und hinsichtlich der Neigung der Kleinpächter, nach dem Krieg Land zu erwerben und Kleineigentümer zu werden. Die mit der SPI verbandelten reformistischen Organisationen zwangen diese Kleinpächter, sozusagen die Schleppenträger der Landarbeiterbewegung zu bleiben; unter solchen Verhältnissen fand die faschistische Bewegung hier eine bedeutende Stütze.

In der Landwirtschaft gab es keine mit großer Arbeitslosigkeit verbundene Krise, die den Grundbesitzern auf der Ebene der einfachen Gewerkschaftskämpfe eine erfolgreiche Gegenoffensive ermöglicht hätte. Der Faschismus nahm daher von hier aus, und zwar mit den Mitteln physischer Gewalt, Waffengewalt, seinen Ausgang, wobei er sich auf die Klasse der Landeigentümer stützte und den in der mittleren Schicht der landwirtschaftlichen Klassen durch die organisatorischen Fehler der SPI und der reformistischen Organisatoren hervorgerufenen Unmut ausnutzte. Natürlich stützte er sich auch auf die allgemeine Situation, auf das wachsende Elend und die zunehmende Unzufriedenheit sämtlicher kleinbürgerlicher Schichten, der Kleinhändler, der Kleinbesitzer sowie der demobilisierten Soldaten und ehemaligen Offiziere, deren persönliche Lage, nach der Stellung, die sie während des Krieges innegehabt hatten, sie all ihrer Hoffnungen beraubt hatte. All dieser Personen bediente man sich; und als man sie organisierte und in militärische Verbände eingliederte, konnte die Bewegung zur Zerstörung der Macht der roten Organisationen auf dem Lande in Angriff genommen werden.

Die Methode, derer sich der Faschismus bediente, ist höchst charakteristisch; er sammelte all jene demobilisierten Elemente, die nach dem Kriege keinen Platz mehr in der Gesellschaft fanden und zog aus ihren militärischen Erfahrungen Gewinn. Die Bildung seiner militärischen Formationen initiierte er nicht in den großen Industriestädten, sondern in jenen Städten, die wir als Hauptstädte der landwirtschaftlichen Regionen ansehen können, wie zum Beispiel Bologna und Florenz, wobei er sich auf die staatlichen Behörden stützte (wir kommen später noch darauf zurück). Die Faschisten verfügten über Waffen und Transportmittel, genossen Straffreiheit und erfreuten sich der Vorteile dieser günstigen Umstände auch dort, wo sie ihren revolutionären Gegnern noch zahlenmäßig unterlegen waren.

Sie organisieren zunächst die sogenannten Strafexpeditionen (spedizioni punitive). Dabei gehen sie folgendermaßen vor: Sie dringen in ein bestimmtes Gebiet ein, zerstören die wichtigen Institutionen der Arbeiterorganisationen, zwingen die Bezirksräte gewaltsam zum Rücktritt, verletzen oder töten gar die gegnerischen Führer oder zwingen sie im besten Falle zu emigrieren. Die Arbeiter der betreffenden Ortschaften sind außerstande, diesen bewaffneten und von der Polizei unterstützten, aus allen Teilen des Landes zusammengezogenen Truppen Widerstand entgegenzusetzen. Die faschistischen Ortsgruppen, die zuvor auf lokaler Ebene nicht gegen die Arbeiterkräfte vorzugehen wagten, sind nun in der Lage, die Oberhand zu gewinnen, weil die Bauern und Arbeiter eingeschüchtert sind und wissen, dass, wenn sie es wagen würden, gegen diese Gruppen irgendeine Aktion zu unternehmen, die Faschisten ihre Strafexpeditionen mit noch größeren Kräften und brutaleren Methoden wiederholen könnten.

So erringt der Faschismus eine beherrschende Stellung in der italienischen Politik und geht auf seinem Marsch sozusagen geographisch vor, also nach einem Plan, der sich auf der Landkarte gut verfolgen lässt. Sein Ausgangspunkt war Bologna, wo im September und Oktober 1920 eine sozialistische Verwaltung eingesetzt worden war und bei dieser Gelegenheit die roten Kampfverbände aufmarschiert waren. Es kommt zu Zwischenfällen; die Sitzungen werden durch Provokationen von außen gestört; auf die Parlamentsbänke der bürgerlichen Minderheit wird, wahrscheinlich mit Hilfe von Provokateuren, geschossen. Diese Tatsachen führen zum ersten großen faschistischen Handstreich. Die entfesselte Reaktion geht zu Zerstörung und Brandschatzung über, abgesehen von den Übergriffen auf die Arbeiterführer. Mithilfe der Staatsmacht bemächtigen sich die Faschisten der Stadt und mit diesen Ereignissen setzt der Terror am historischen 21. November 1920 ein; dem Stadtrat von Bologna gelingt es danach nicht mehr, die Macht zurück zu erobern.

Von Bologna ausgehend, verfolgt der Faschismus einen Weg, den wir hier nicht in allen Einzelheiten nachvollziehen wollen; wir beschränken uns darauf zu sagen, dass er zwei Richtungen einschlug: einerseits in die des nordwestlichen industriellen Dreiecks (Mailand, Turin und Genua) und andererseits in die der Toskana und Mittelitaliens, um die Hauptstadt einkreisen und bedrohen zu können. Es war von vornherein klar, dass sich in Süditalien aus denselben Gründen, die auch die Entstehung einer großen sozialistischen Bewegung verhindert hatten, keine faschistische Bewegung bilden konnte. Der Faschismus stellt so rudimentär eine Bewegung des rückständigen Teiles der Bourgeoisie dar, dass er sich zuerst nicht in Süditalien, sondern gerade dort hervorwagte, wo die Arbeiterbewegung am stärksten und der Klassenkampf am deutlichsten in Erscheinung getreten waren.

Wie sollen wir uns angesichts dieser Tatsachen die faschistische Bewegung erklären? Ist sie eine rein agrarische Bewegung? Nun, das wollten wir am allerwenigsten sagen, als wir feststellten, die Bewegung sei hauptsächlich von den Provinzialhauptstädten ausgeschwärmt; man darf den Faschismus nicht als unabhängige Bewegung einer einzigen Fraktion der Bourgeoisie, als die Organisation der agrarischen Interessen im Gegensatz zu jenen der industriellen ansehen. Übrigens hat der Faschismus seine politische und gleichzeitig militärische Organisation selbst in jenen Provinzen, wo er seine Aktionen auf das flache Land beschränkte, in den großen Städten geschaffen.

Im Abgeordnetenhaus bildete sich, als der Faschismus nach seiner Wahlteilnahme 1921 eine parlamentarische Fraktion hatte, unabhängig vom ihm eine Agrarpartei heraus. Im Verlaufe der weiteren Ereignisse unterstützten die Industrieunternehmer den Faschismus. Maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung hatte eine vor kurzem veröffentlichte Erklärung des Allgemeinen Industrieverbandes, worin sich dafür ausgesprochen wurde, Mussolini mit der Bildung des neuen Kabinetts zu betrauen. Eine noch interessantere Erscheinung in dieser Hinsicht ist das Phänomen der faschistischen Gewerkschaftsbewegung. Wie bereits gesagt, verstanden es die Faschisten, sich die Tatsache zunutze zu machen, dass die Sozialisten niemals eine eigene Agrarpolitik hatten und dass gewisse (nicht eigentlich der Arbeiterschaft angehörende) Elemente auf dem Lande Interessen hatten, die sich von denen, die die Sozialisten vertraten, unterschieden. Obgleich der Faschismus alle Mittel brutaler und barbarischer Gewalt benutzte und benutzen muss, verstand er es aber auch, diese Mittel mit der zynischsten Demagogie zu vereinen und mit den Bauern und sogar den Landarbeitern Klassenorganisationen zu gründen. In gewisser Hinsicht trat er sogar gegen die Gutsbesitzer auf. Es gibt Beispiele von gewerkschaftlichen Kämpfen unter faschistischer Leitung, die große Ähnlichkeit mit den vorhergehenden Methoden der roten Organisationen aufweisen. Wir dürfen diese Bewegung, die durch Zwang und Terror eine faschistische Gewerkschaft auf die Beine stellte, keinesfalls für eine Form des Kampfes gegen die Unternehmer halten, andererseits aber auch nicht den Schluss ziehen, der Faschismus stehe für eine Bewegung der landwirtschaftlichen Unternehmer.

Tatsache ist, der Faschismus ist eine große, die herrschende Klasse vereinheitlichende Bewegung, fähig, sich sämtliche Mittel sowie alle besonderen und lokalen Interessen landwirtschaftlicher und industrieller Unternehmergruppen dienstbar zu machen und auszunutzen.

Das Proletariat hat nicht vermocht, sich zu einer gemeinsamen, einheitlichen Kampforganisation zur Eroberung der Macht zusammenzuschließen und diesem Ziel die unmittelbaren Interessen kleiner und kleinster Gruppen zu opfern. Es verstand nicht, diese Frage im richtigen Augenblick zu lösen. Die italienische Bourgeoisie nützte diesen Umstand, um dies ihrerseits zu versuchen. Die herrschende Klasse schuf eine Organisation zur Verteidigung der in ihren Händen liegenden Macht und sie verfolgte hierbei systematisch, planmäßig eine anti-proletarische kapitalistische Offensive.

Der Faschismus schuf eine Gewerkschaftsorganisation. Wozu? Um den Klassenkampf zu führen? Mitnichten! Er gründete seine Gewerkschaftsbewegung unter der Losung: Alle wirtschaftlichen Interessengruppen haben das Recht, eine Gewerkschaft zu bilden; es können sich Verbände bilden unter den Arbeitern, den Bauern, den Kaufleuten, den Kapitalisten, den Großgrundbesitzern usw. Sie alle dürfen sich jedoch nur nach demselben Prinzip organisieren: Die gewerkschaftliche Tätigkeit sämtlicher Organisationen muss sich den nationalen Interessen, der nationalen Produktion, dem nationalen Ruhm usw. unterordnen. Also eine Arbeitsgemeinschaft zwischen den Klassen und mitnichten ein Kampf zwischen Klassen. Alle Interessen sollen zu einer sogenannten nationalen Einheit verschmolzen werden. Wir wissen, was diese nationale Einheit bedeutet: die konterrevolutionäre Herrschaftssicherung des bürgerlichen Staates und seiner Institutionen.

Die Entstehung des Faschismus muss unserer Ansicht nach drei Hauptfaktoren zugeschrieben werden: dem Staat, der Großbourgeoisie und den Mittelklassen. Der erste dieser Faktoren ist also der Staat. Der Staatsapparat hat in Italien beim Auftreten des Faschismus eine wichtige Rolle gespielt. Die Meldungen über die sukzessiven Krisen der bürgerlichen Regierung ließen die Vorstellung aufkommen, der Staatsapparat der italienischen Bourgeoisie sei derart instabil, dass zu dessen Sturz ein Handstreich genügen würde. So liegen die Dinge aber nicht – die Bourgeoisie konnte ihre faschistische Organisation gerade in dem Maße aufbauen, wie der Staatsapparat gefestigt wurde.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit machte der Staatsapparat eine Krise durch, dessen offenkundige Ursache in der Demobilisierung lag; alle, die bisher im Krieg waren, wurden plötzlich auf den Arbeitsmarkt geworfen, und in diesem heiklen Moment musste sich die Staatsmaschine, die bis dahin damit befasst war, alle Mittel gegen den äußeren Feind bereit zu stellen, in einen Apparat der Machtsicherung gegen die innere Revolution umwandeln. Für die Bourgeoisie war dies ein ungeheures Problem. Sie konnte es weder technisch noch militärisch durch einen Kampf mit offenem Visier gegen das Proletariat lösen: Es musste eine politische Lösung her. In dieser Periode entstehen die ersten links-bürgerlichen Regierungen nach dem Krieg und die politische Richtung Nittis und Giolittis übernimmt die Macht (2).

Und gerade diese Politik hat dem Faschismus den Weg zum Sieg geebnet. Zunächst musste man dem Proletariat entgegenkommen; und in dem Augenblick, in dem der Staatsapparat der Konsolidierung bedurfte, betrat der Faschismus den Schauplatz: Es ist pure Demagogie, wenn er an diesen Regierungen Kritik übt und sie der Feigheit gegenüber den Revolutionären bezichtigt. Denn in Wirklichkeit haben die Faschisten ihren Erfolg gerade den Zugeständnissen der demokratischen Politik der ersten Minister der Nachkriegszeit zu verdanken. Nitti und Giolitti haben der Arbeiterklasse Zugeständnisse gemacht. Einige Forderungen der SPI – die Demobilisierung, die politische Ordnung, die Amnestie für die Deserteure – wurden erfüllt. Dies tat man, um Zeit zur Wiedererrichtung des Staatsapparates auf solider Grundlage zu gewinnen. Nitti war es, der die “Guardia Regia“ schuf (3), eine Organisation, die nicht eigentlich einen polizeilichen, sondern einen ganz neuen militärischen Charakter trug. Einer der großen Fehler der Sozialisten bestand darin, dieses Problem nicht als grundsätzliches zu erkennen: sie hätten es sogar aus rein verfassungsmäßiger Sicht, dass nämlich der Staat eine zweite Armee gebildet hat, anprangern können. Die Sozialisten begriffen nicht die Tragweite dieser Frage und hielten Nitti für einen Mann, mit dem in einer Linksregierung zusammengearbeitet werden könne. Ein weiteres Zeugnis für die Unfähigkeit dieser Partei, den politischen Entwicklungsprozess Italiens zu verstehen.

Giolitti vervollständigte das Werk Nittis. Unter Giolitti unterstützte Kriegsminister Bonomi die ersten Vorstöße des Faschismus, indem er der im Entstehen begriffenen Bewegung die demobilisierten Offizieren zuführte, die auch nach ihrer Rückkehr ins bürgerliche Leben den größten Teil ihres Soldes weiterbezogen. Der Staatsapparat wurde in einem sehr hohen Maße den Faschisten zur Verfügung gestellt und man rüstete sie mit allen zur Bildung einer Armee nötigen Mitteln aus.

Während der Betriebsbesetzungen begriff die Regierung Giolitti sehr wohl, dass das bewaffnete Proletariat sich der Fabriken bemächtig hatte und das Landproletariat in seinem revolutionären Elan im Begriff war, sich des Bodens zu bemächtigen, dass es aber andererseits ein ungeheurer Fehler wäre, den Kampf aufzunehmen, bevor die konterrevolutionären Kräfte sich formiert hätten. Bei der Bereitstellung der reaktionären Kräfte, die eines Tages die proletarische Bewegung zerschmettern sollten, konnte sich die Regierung auf die Manöver der verräterischen Führer des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes, seinerzeit alles Mitglieder der Sozialistischen Partei, verlassen. Als die Verräter nämlich das Gesetz über die Arbeiterkontrolle bewilligten, das niemals in Kraft trat oder auch nur verabschiedet wurde, gelang es der Regierung in dieser kritischen Situation, den bürgerlichen Staat zu retten.

Das Proletariat hatte die Betriebe und den Grund und Boden in Besitz genommen, die SPI bewies jedoch wieder einmal, unfähig zu sein, eine geschlossene Aktion der Industrie- und Landarbeiter auf die Beine zu stellen. Dieser Fehler wird es der Bourgeoisie leicht machen, die konter-revolutionäre Einheit zu realisieren, und diese Einheit wird sie befähigen, einerseits die Industrie-, andererseits die Landarbeiter zu schlagen. Wie wir sehen, hat der Staat in der Entwicklung der faschistischen Bewegung eine enorm wichtige Rolle gespielt.

Den Regierungen Nittis, Giolittis und Bonomis folgte die Regierung Facta(4). Sie diente dazu, die dem Faschismus bei seinem territorialen Vormarsch zugestandene völlige Handlungsfreiheit zu verschleiern. Zur Zeit des Auguststreiks 1922 entwickelten sich zwischen Arbeitern und Faschisten, Letztere offen von der Regierung unterstützt, schwere Kämpfe. Wir können Bari als Beispiel anführen. Eine ganze Woche Kampf reichte nicht aus, die Arbeiter von Bari, die sich in ihren Wohnungen in der Altstadt verschanzt hatten und sich mit der Waffe in der Hand verteidigten, zu besiegen, obwohl die geballte Macht der Faschisten aufgeboten worden war. Die Faschisten mussten sich zurückziehen, wobei sie viele der Ihren auf dem Schlachtfeld zurückließen. Was tat die Regierung Facta? In der Nacht ließ man die Altstadt durch Tausende von Soldaten, Hunderte von Carabinieri und Soldaten der “Guardia Regia“ einkreisen; der Belagerungszustand wurde ausgerufen. Vom Hafen her nahm ein Torpedoboot die Häuser unter Feuer. Maschinengewehre, Panzerautos, Geschütze wurden aufgefahren. Die im Schlaf überrumpelten Arbeiter wurden geschlagen, die Arbeitskammer genommen. So ging der Staat überall vor. Immer wenn man sah, dass der Faschismus den Rückzug antreten musste, griff die Staatsmacht ein; man schoss auf die sich verteidigenden Arbeiter, man verhaftete und verurteilte die, deren einziges Verbrechen die Selbstverteidigung war, während die Faschisten, die zweifellos gemeine Verbrechen begangen hatten, grundsätzlich freigesprochen wurden.

Der erste Faktor ist also der Staat. Der zweite ist, wie bereits gesagt, die Großbourgeoisie. Die Großkapitalisten der Industrie, der Banken, des Handels sowie die Großgrundbesitzer haben ein natürliches Interesse an einer Kampforganisation, die ihre Offensive gegen die Werktätigen ausführt.

Aber der dritte Faktor spielt bei der Bildung der faschistischen Macht eine nicht minder wichtige Rolle. Um neben dem Staat eine illegale reaktionäre Organisation zu schaffen, mussten andere Elemente angeworben werden als jene, die die herrschende Klasse aus ihren Reihen stellen konnte. Man wandte sich also den vorhin schon genannten Schichten der Mittelklasse zu und stellte sich als ihr Interessenvertreter dar. Das ist es, was der Faschismus versuchte und was ihm, das muss man zugeben, auch gelungen ist. Er hat in den Schichten, die dem Proletariat am nächsten stehen, Anhänger geworben; so unter den kriegsmüden Soldaten, unter all den Kleinbürgern, Halb-Bourgeois, Kaufleuten und Händlern, und vor allem unter jenen intellektuellen Elementen der bürgerlichen Jugend, die, in die Reihen des Faschismus tretend, den Elan wiederfanden, sich moralisch aufzurichten, in die Toga des Kampfes gegen die Arbeiterbewegung zu hüllen und schließlich das Hohelied des Patriotismus und Imperialismus zu singen. Diese Elemente führten dem Faschismus eine bedeutende Anzahl von Anhängern zu und ermöglichten ihm, sich militärisch zu organisieren.

Das sind die drei Faktoren, die es unseren Gegnern erlaubten, uns eine Bewegung gegenüberzustellen, die an Rohheit und Brutalität ihresgleichen sucht, der man aber zugestehen muss, über eine solide Organisation und Führer von großer politischer Geschicklichkeit zu verfügen. Die SPI hat niemals die Bedeutung des entstehenden Faschismus begriffen. Der “Avanti!“ hat nichts von dem begriffen, was die Bourgeoisie unter Ausnutzung der ungeheuren Fehler der Arbeiterführer vorbereitete. Er hat nicht einmal Mussolini zitieren wollen, aus Angst, zu viel Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, für ihn zu werben!

Wir sehen also, dass der Faschismus keine neue politische Lehre darstellt, aber eine große politische und militärische Organisation hat und eine mit viel journalistischem Geschick und viel Eklektizismus agierende Presse. Er hat keine Ideen, kein Programm, aber jetzt, wo er das Staatsruder in Händen hält, steht er konkreten Problemen gegenüber und ist genötigt, sich um die italienische Volkswirtschaft zu kümmern. Beim Übergang von der negativ zur positiv bestimmten Staatspolitik, werden sich, ungeachtet seines organisatorischen Talents, seine Schwächen zeigen.

 

Das faschistische Programm

Nachdem wir uns die historischen Faktoren und die gesellschaftliche Realität angesehen haben, aus denen die faschistische Bewegung entstanden ist, müssen wir uns jetzt der von ihr angenommenen Ideologie zuwenden sowie ihrem Programm, mit dessen Hilfe sie ihre Anhänger gewannen.

Unsere Kritik führt uns zur Schlussfolgerung, dass der Faschismus hinsichtlich der Ideologie und des traditionellen Programms der bürgerlichen Politik nichts Neues gebracht hat. Seine Überlegenheit und seine bestimmende Charakteristik sind allein in seiner Organisation, seiner Disziplin und seiner Hierarchie zu finden. Ungeachtet dieser besonderen militärischen Aspekte wird er sich der schwierigen Lage stellen müssen, die zu überwinden er unfähig ist: der Wirtschaftskrise, die immer wieder für einen revolutionären Aufschwung sorgen wird, während der Faschismus nicht imstande ist, die bürgerliche Gesellschaftsordnung zu reorganisieren. Der Faschismus, der die wirtschaftliche Anarchie des kapitalistischen Systems niemals überwinden kann, hat eine andere historische Aufgabe, die wir als Kampf gegen die politische Anarchie, gegen die Anarchie der Organisation der bürgerlichen Klasse als politischer Partei bezeichnen können. Die Fraktionen der herrschenden Klasse Italiens haben seit jeher politische und parlamentarische Gruppierungen gebildet, die keine fest organisierten Parteien hinter sich haben und sich gegenseitig bekämpfen, denn ihre jeweiligen lokalen Interessen ziehen einen Konkurrenzkampf nach sich, der die Berufspolitiker in den Hinterzimmern des Parlaments Machenschaften und Ränkespiele jeden Kalibers fabrizieren lässt. Die konterrevolutionäre Offensive machte es notwendig, im gesellschaftlichen Kampf und in der Regierungspolitik die Kräfte der herrschenden Klasse zu bündeln. Im Faschismus manifestiert sich diese Notwendigkeit. Indem er sich über alle traditionellen bürgerlichen Parteien stellt, entleert er sie allmählich ihres Inhalts; er übernimmt ihre Praxis und dank der Fehler und Misserfolge der Arbeiterbewegung kann er die politische Macht und die Mittelklassen für seine Zwecke nutzen. Aber es wird ihm nie gelingen, sich eine konkrete Ideologie und ein Programm sozialer und administrativer Reformen zuzulegen, das die Grenzen der herkömmlichen bürgerlichen Politik, die schon tausendmal bankrott gemacht hat, überwindet.

Der kritische Teil der angeblichen faschistischen Lehre macht nicht viel her. Er gibt sich einen anti-sozialistischen und zugleich anti-demokratischen Anstrich. Natürlich ist der Faschismus anti-sozialistisch, denn er ist eine Bewegung der anti-proletarischen Kräfte, und natürlich spricht er sich gegen alle sozialistischen oder halb-sozialistischen Wirtschaftsformen aus, ohne deshalb etwas Neues zur Stabilisierung des Systems des Privateigentums bieten zu können – wenn man mal vom Allgemeinplatz des Scheiterns des Kommunismus in Russland absieht. Und die Demokratie soll einem faschistischen Staat weichen, weil sie es nicht verstanden habe, die revolutionären und gegen die Gesellschaft gerichteten Tendenzen zu bekämpfen. Doch das ist bloß eine hohle Phrase.

Der Faschismus ist nicht eine Strömung der bürgerlichen Rechten, die sich auf die Aristokratie, die Geistlichkeit, hohe Zivil- und Militärbeamte stützt und die Demokratie der bürgerlichen Regierung und der konstitutionellen Monarchie durch eine despotische Monarchie ersetzen will. Der Faschismus verkörpert den konter-revolutionären Kampf der sich zusammenschließenden Bourgeoisie und hat so auch überhaupt keinen Grund, die demokratischen Institutionen zu zerstören. Von unserem marxistischen Gesichtspunkt aus ist dieser Umstand nicht widersinnig, denn wir wissen, dass das demokratische System nur eine Sammlung trügerischer Garantien darstellt, hinter denen sich der wirkliche Kampf der herrschenden Klasse gegen das Proletariat verbirgt.

Der Faschismus kombiniert gleichzeitig reaktionäre Gewalt und demagogisches Geschick – im Übrigen hat es die bürgerliche Linke stets verstanden, einerseits das Proletariat zu täuschen und andererseits klar zu machen, dass die großen kapitalistischen Interessen höher stehen als alle sozialen und politischen Bedürfnisse der Mittelklassen. Wenn die Faschisten von einer scheinbaren Kritik der liberalen Demokratie zur positiven Formulierung einer Ideologie übergehen und dabei Vaterlandsliebe predigen sowie von einer historischen Mission des Volkes schwatzen, so phantasieren sie einen historischen Mythos, der im Lichte der wirklichen sozialen Kritik jeder Grundlage entbehrt und das Land der Scheinsiege, Italien genannt, demaskiert. Was den Einfluss auf die Massen angeht, so haben wir hier eine Nachahmung der klassischen Haltung der bürgerlichen Demokratie vor uns: Wenn gesagt wird, alle Interessen hätten sich dem höheren nationalen Interesse unterzuordnen, heißt das, einer Kollaboration aller Klassen das Wort zu reden, während in der Praxis die konservativen bürgerlichen Institutionen gegen die revolutionären Emanzipationsversuche des Proletariats gestützt werden. Dasselbe hat die liberale Demokratie stets getan.

Das Neue am Faschismus ist, wie er die bürgerliche Regierungspartei organisiert. Die politischen Ereignisse im Parlament haben den Eindruck erweckt, der bürgerliche Staatsapparat sei in eine derart schwere Krise geraten, dass ein Stoß von außen genügen würde, ihn zu zerbrechen. In Wahrheit handelte es sich bloß um eine Krise der bürgerlichen Regierungsmethoden, die infolge der Ohnmacht der überkommenen Gruppierungen und Führer, die den Kampf gegen die Revolutionäre während einer akuten Krise nicht zu leiten vermochten, entstanden war. Der Faschismus schuf ein Organ, das die Führungsrolle der Staatsmaschine in diesem Lande übernehmen konnte. Als aber die Faschisten neben ihrem praktischen Kampf gegen das Proletariat ein positives und konkretes Programm der gesellschaftlichen Organisation und der Verwaltung des Staates vorstellten, haben sie im Grunde bloß die banalen Thesen der Demokratie und der Sozialdemokratie wiederholt. Sie haben nie ein eigenes, in sich geschlossenes System von Vorschlägen und Projekten geschaffen. So haben sie z.B. immer behauptet, das faschistische Programm sehe einen Abbau des bürokratischen Staatsapparates vor, was sich, ausgehend von der Verringerung der Anzahl der Ministerien, auf alle Verwaltungsbereiche erstrecken sollte. Nun, Mussolini mag auf den Salonwagen des Ministerpräsidenten verzichtet haben, doch die Zahl der Minister und Staatssekretäre hat er erhöht, um hier seine Prätorianer unterbringen zu können.

Genauso hat er sich, nach einigem republikanischen bzw. rätselhaften Getue, angesichts der Frage: Monarchie oder Republik? zum Monarchismus bekannt, und nach all dem Geschrei um die parlamentarische Korruption die parlamentarische Praxis ohne Wenn und Aber wieder aufgenommen.

Schließlich war der Faschismus wenig geneigt, sich die Intentionen der reinen Reaktion zu Eigen zu machen, so dass er dem Syndikalismus breitesten Spielraum einräumte. Auf dem Kongress in Rom im Jahre 1921, wo der Faschismus fast komisch anmutende Versuche unternahm, seine Lehre festzulegen, wurde sogar versucht, den faschistischen Syndikalismus dadurch zu charakterisieren, dass in seiner Bewegung den Kopfarbeitern größeres Gewicht gegenüber den Handarbeitern beigemessen würde. Nun hat die raue Wirklichkeit schon vor langem diesen angeblich theoretischen Inhalt Lügen gestraft. Der Faschismus, der seine Gewerkschaftsorganisationen auf die physische Gewalt und das Monopol in allen Arbeitsangelegenheiten (das ihm von den Arbeitgebern überlassen wurde, um die roten Organisation zu brechen) gründete, hat sich jedenfalls nicht auf die Facharbeiterschaft ausdehnen können und nur unter den Landarbeitern und einigen qualifizierten städtischen Arbeiterschichten Erfolge verbuchen können: z.B. unter den Hafenarbeitern, ohne dass es ihm jedoch gelungen wäre, den vorgeschrittensten und aufgewecktesten Teil des Proletariats an sich zu ziehen. Ebenso wenig hat er den Angestellten- und Handwerkergewerkschaften neuen Schwung geben können. Der faschistische Syndikalismus steht auf keinem festen Boden. Ideologie und Programm der Faschisten enthalten ein trübes Gemisch bürgerlicher und klein-bürgerlicher Ideen und Forderungen, und das systematische und gewaltsame Vorgehen gegen das Proletariat hindert sie nicht, sich der sozialdemokratischen Quellen des Opportunismus zu bedienen. Das zeigt sich etwa bei dem Standpunkt, den die italienischen Reformisten einnehmen, deren Politik eine Zeitlang von anti-faschistischen Prinzipien und von der Illusion beherrscht zu sein schien, eine bürgerlich-proletarische Koalitionsregierung gegen die Faschisten bilden zu können, sich nun aber flott den siegreichen Faschisten anschließen. Diese Annäherung ist keineswegs überraschend, sie kam durch eine ganze Reihe von Umständen zustande und Vieles hatte schon darauf hingedeutet, unter anderem auch die Bewegung D‘Annunzios, die einerseits mit dem Faschismus verbandelt ist und andererseits den Versuch machte, auf der Grundlage eines Programms an die Arbeiterorganisationen heranzutreten, das (sich an die Fiumer Verfassung anlehnend) eine proletarische bzw. sogar sozialistische Basis haben soll (5).

 

Die letzten Ereignisse

Ich müsste noch einige Dinge erwähnen, die ich hinsichtlich des faschistischen Phänomens für äußerst wichtig halte, doch habe ich nicht mehr die Zeit dafür. Andere italienische Genossen können meine Rede später noch ergänzen. Ich habe bewusst die moralische Seite und das, was die italienischen Arbeiter und Kommunisten zu erleiden hatten, weg gelassen, weil mir das nicht der Kernpunkt der Frage zu sein scheint.

Ich werde mich jetzt den jüngsten Ereignissen in Italien zuwenden, über die der Kongress genaue Informationen erwartet.

Unsere Delegation hat Italien vor diesen Ereignissen verlassen und hatte bis jetzt kaum Informationen darüber. Gestern Abend aber ist ein Delegierter unseres Zentralkomitees eingetroffen, der uns ein Bild der Ereignisse gab. Ich bürge für die genaue Wiedergabe dessen, was uns mitgeteilt wurde.

Wie ich euch schon sagte, hat die Regierung Facta den Faschisten bei der Durchführung ihrer Politik größten Spielraum gelassen. Nur ein Beispiel: Der Umstand, dass die katholisch-bäuerliche Volkspartei bei den verschiedenen Regierungswechseln stark vertreten war, hat die Faschisten nicht daran gehindert, weiterhin gegen die Organisationen, Personen und Institutionen dieser Partei vorzugehen. Die Regierung war nur eine Schattenregierung, deren einzige Funktion war, den auf die Macht gerichteten Vormarsch der Faschisten, den wir als rein territorial und geographisch bezeichnet haben, zu flankieren. Tatsächlich hat die Regierung dem faschistischen Staatsstreich den Boden bereitet. Inzwischen haben sich die Dinge jedoch überstürzt. Es gab eine neuerliche Regierungskrise. Man forderte den Rücktritt Factas. Die letzten Wahlen hatten eine Zusammensetzung des Parlaments ergeben, die es verunmöglichte, sich nach den gewohnten Methoden der alten bürgerlichen Parteien eine stabile Majorität zu sichern. In Italien spricht man immer von der “mächtigen liberalen Partei“ an der Macht. Sie war in Wahrheit aber keine Partei im eigentlichen Sinne des Wortes – sie hat nie eine Organisation gehabt, die diesen Namen verdiente, sondern bildete nur ein Sammelsurium aus Cliquen dieser oder jener Politiker aus dem Norden oder Süden, aus Seilschaften der Industrie- oder Agrarbourgeoisie, angeführt von Berufspolitikern. Das Ensemble dieser Parlamentarier bildete den Kern jeder parlamentarischen Zusammensetzung.

Für den Faschismus war nun der Augenblick gekommen, diesen Zustand zu ändern, wenn er nicht einer schweren inneren Krise erliegen wollte. Das war auch ein organisatorisches Problem. Man musste den Erfordernissen der faschistischen Bewegung nachkommen und die Kosten dieser Organisierung tragen. Das Gros dieser finanziellen Mittel ist von den herrschenden Klassen und, wie es scheint, auch von ausländischen Regierungen vorgestreckt worden. Frankreich hat der Gruppe Mussolini Geld zukommen lassen. In einer geheimen Sitzung des französischen Kabinetts wurde über ein Budget beraten, das bedeutende, im Jahre 1915 an Mussolini gezahlte Summen umfasst. Diese und andere Dokumente hat die SPI zwar einsehen können, die Sache aber nicht weiter verfolgt, weil sie Mussolini für erledigt hielt. Zum anderen hat die italienische Regierung den Faschisten ihre Aufgabe immer erleichtert, z.B. wurde ihren Banden das Eisenbahn- und Transportnetz gratis zur Verfügung gestellt. Hätte die faschistische Bewegung angesichts der kolossalen Kosten nicht entschieden, die Macht auf direktem Wege an sich zu reißen, wäre die Lage für sie sehr heikel geworden. Sie hätten keine Neuwahlen abwarten können, auch wenn ihnen der Erfolg sicher war.

Die Faschisten haben bereits eine starke politische Organisation. Sie zählen schon 300.000 Mann; sie selbst behaupten, mehr zu sein. Sie hätten sogar mit dem rein demokratischen Instrumentarium siegen können. Doch es war Eile geboten und sie eilten. Am 24. Oktober fand in Neapel die Sitzung des Nationalrates der Faschisten statt. Jetzt wird behauptet, dieses Ereignis, für das die ganze bürgerliche Presse die Werbetrommel gerührt hat, sei nur ein Manöver gewesen, um vom Staatsstreich abzulenken. Zu einem bestimmten Zeitpunkt sagte man den Teilnehmern des Kongresses: Brechen wir die Debatten ab, es gibt Wichtigeres zu tun; jeder gehe auf seinen Platz. Die faschistische Mobilisierung begann. Das war am 26. Oktober. In der Hauptstadt herrschte noch völlige Ruhe. Facta hatte erklärt, dass er, unter Beachtung des üblichen Prozederes, nicht zurücktreten wolle, ehe er nicht noch einmal das Kabinett zusammenberufen habe. Gleichwohl reichte er beim König seinen Rücktritt ein. Es wurde über die Bildung einer neuen Regierung verhandelt. Die Faschisten machten sich zu ihrem Marsch nach Rom auf, dem Zentrum ihrer Tätigkeit. (Sie waren besonders in Mittelitalien, in der Toskana, aktiv.) Man ließ sie gewähren.

Salandra wurde mit der Regierungsbildung beauftragt, was er infolge der Haltung der Faschisten ablehnte. Wären die Faschisten nicht durch die Ernennung Mussolinis beruhigt worden, wären sie wohl auch gegen den Willen ihrer Führer wie Banditen plündernd und brandschatzend durchs Land gezogen. Die öffentliche Meinung begann Anzeichen von Unruhe zu zeigen. Die Regierung Facta erklärte den Belagerungszustand. Er wurde tatsächlich ausgerufen und den ganzen Tag lang erwartete man den Zusammenstoß der Staatsgewalt mit den Faschisten. Unsere Genossen blieben allerdings skeptisch. Und in der Tat trafen die Faschisten während ihrer Fahrt auf keinerlei Widerstand. Dennoch, in der Armee gab es gewisse Kreise, die gegen die Faschisten waren; die Soldaten waren bereit, gegen die Faschisten loszuschlagen, während die Mehrzahl der Offiziere pro-faschistisch war.

Der König hatte sich geweigert, die Verhängung des Belagerungszustandes zu unterschreiben. Das bedeutete die Annahme der Bedingungen der Faschisten, die im “Popolo d‘Italia“ schrieben: Für eine legale Lösung muss nur Mussolini mit der Regierungsbildung beauftragt werden; wenn nicht, marschieren wir auf Rom und nehmen die Stadt in Besitz.

Einige Stunden, nachdem der Belagerungszustand aufgehoben worden war, erfuhr man, dass Mussolini nach Rom abgereist war. Man hatte bereits Truppen für eine militärische Verteidigung zusammengezogen. Aber die Vereinbarung war schon getroffen und am 31. Oktober zogen die Faschisten, ohne dass Blut vergossen worden wäre, in Rom ein.

Mussolini bildete die neue Regierung, dessen Zusammensetzung bekannt ist. Die Faschistenpartei, die im Parlament nur 35 Sitze besaß, hatte die absolute Majorität. Mussolini behielt sich nicht nur den Vorsitz im Ministerrat vor, sondern auch das Innen- und Außenministerium. Auch die übrigen wichtigen Ressorts wurden von Faschisten besetzt. Da es aber mit den alten Parteien zu keinem völligen Bruch gekommen war, gibt es in der Regierung auch zwei Vertreter der Sozialdemokratie, d.h. der bürgerlichen Linken, sowie der Rechtsliberalen und einen Giolittianer. Die Vertreter der Monarchie sind General Armando Diaz im Kriegsministerium sowie Großadmiral Thoan Revel im Marineministerium. Die Volkspartei, die im Abgeordnetenhaus großes Gewicht hat, zeigte sich gegenüber Mussolini kompromissbereit. Unter dem Vorwand, die offiziellen Parteiorgane könnten sich nicht in Rom versammeln, wurde die Verantwortung für die Annahme der Vorschläge Mussolinis einer offiziösen Versammlung einiger Parlamentarier überlassen. Mussolini konnte auch zu gewissen Zugeständnissen bewegt werden, und die Presse der Volkspartei konnte erklären, die neue Regierung habe am System der gewählten Volksvertretung nicht groß was verändert.

Am Kompromiss beteiligten sich auch die Sozialdemokraten und einen Moment sah es so aus, als sollte der Reformist Baldesi der Regierung angehören. Mussolini war schlau genug, durch einen seiner Statthalter bei ihm vorzufühlen; nachdem Baldesi erklärt hatte, er wäre glücklich, einen Posten anzunehmen, ließ Mussolini mitteilen, der Schritt sei von einem seiner Freunde auf eigene Faust unternommen worden und so trat Baldesi dem Kabinett nicht bei. Mussolini hatte zunächst keinen Vertreter des reformistischen Allgemeinen Gewerkschaftsbundes zugelassen, weil die Rechten im Kabinett dagegen waren. Jetzt aber, da er auf keine revolutionäre politische Partei mehr Rücksicht nehmen muss, besteht er auf seinen Standpunkt, man müsse doch eine Vertretung dieser Organisation in seiner “großen nationalen Koalition“ haben.

Wir sehen in diesen Ereignissen einen Kompromiss zwischen den traditionellen politischen Cliquen und verschiedenen Schichten der herrschenden Klasse, den Grundbesitzern, Bank- und Industriekapitalisten: Alle sind dem neuen Regime durchaus zugetan, das durch eine Bewegung installiert wurde, die sich der Unterstützung des Kleinbürgertums versichert hatte.

Unserer Meinung nach ist der Faschismus ein Instrument, mit allen verfügbaren Mitteln die Macht zu festigen, sogar die Lehren der ersten proletarischen Revolution – der russischen – wusste man zu nutzen. Angesichts einer schweren Wirtschaftskrise kann der Staatsapparat allein nicht mehr die Macht sichern. Es bedarf einer in sich geschlossenen Partei, einer zentralisierten konter-revolutionären Organisation. Aufgrund ihrer Verbindungen mit der gesamten Bourgeoisie ist die faschistische Partei in gewisser Hinsicht das, was die Kommunistische Partei aufgrund ihrer Verbindung mit dem Proletariat ist, nämlich ein Leitungs- und Kontrollorgan des gesamten Staatsapparates, gut organisiert und diszipliniert. In Italien hat die faschistische Partei fast alle bedeutenden Ämter in den Ressorts des Staatsapparats inne: Sie ist das leitende bürgerliche Staatsorgan in der Niedergangsperiode des Imperialismus. Das ist, meiner Ansicht nach, eine hinlängliche historische Erklärung des Faschismus und der letzten Ereignisse in Italien.

Die ersten Maßnahmen der neuen Regierung beweisen, dass sie nicht vorhat, die Grundlagen der herkömmlichen Institutionen in Italien zu ändern. Natürlich stellt sich die Situation für die proletarische und kommunistische Bewegung als sehr ernst dar, obschon ich voraussage, dass sich der Faschismus liberal und demokratisch geben wird. Die demokratischen Regierungen haben dem Proletariat niemals etwas anderes als Erklärungen und Versprechungen vorgesetzt. Z.B. hat die Regierung Mussolinis versichert, die Pressefreiheit zu respektieren. Sie hat nur vergessen hinzuzufügen, die Presse müsse sich der Freiheit aber auch würdig erweisen. Was heißt das? Das soll heißen, die Regierung sagt zu, die Pressefreiheit zu respektieren, wird aber, wie es schon öfter war, ihre faschistisch-militärischen Organisationen gewähren lassen, wenn es ihnen opportun erscheint, den kommunistischen Organen einen Maulkorb umzuhängen. Zum anderen sollte man, auch wenn die faschistische Regierung gewissen bürgerlichen Liberalen Zugeständnisse macht, keinen allzu großen Kredit darauf geben, dass sie ihre militärischen Verbände in Sportvereine oder sonst was umzuwandeln gedenken (uns ist sehr wohl bekannt, dass man Dutzende von Faschisten in Polizeigewahrsam nahm, weil sie sich dem von Mussolini erlassenen Demobilisierungsbefehl widersetzten).

Welchen Eindruck machten nun diese Ereignisse auf das Proletariat? Seine Lage ließ nicht zu, im Kampf eine wichtige Rolle zu spielen, es musste sich beinahe passiv verhalten. Und was die Kommunistische Partei angeht, hatte sie sehr wohl gewusst, dass der Sieg des Faschismus eine Niederlage der revolutionären Bewegung ankünden würde. Die eigentliche Frage war, ob die Taktik der Kommunistischen Partei in der Lage wäre, die bestmöglichen Ergebnisse bei der Verteidigung des italienischen Proletariats und aus der Defensive heraus zu erreichen, denn wir waren uns im Klaren darüber, dass die KPI gegenwärtig keine Offensive gegen die faschistische Reaktion würde starten können. Wäre statt des Kompromisses zwischen der Bourgeoisie und dem Faschismus ein militärischer Konflikt, ein Bürgerkrieg ausgebrochen, hätte das Proletariat vielleicht eine gewisse Rolle spielen, die Einheitsfront für den Generalstreik schaffen und Erfolge erringen können. Aber wie die Dinge lagen, konnte das Proletariat keine Aktionen wagen. So wichtig die Ereignisse im Verlauf der Entwicklung auch waren, darf man doch nicht aus den Augen verlieren, dass der politische Szenenwechsel nicht so plötzlich stattfand, wie es scheint, da sich die Situation, schon vor dem letzten Ansturm des Faschismus, täglich zugespitzt hatte. Als Beispiel des Kampfes gegen Staatsmacht und Faschismus mag Cremona gelten, wo sechs Tote zu beklagen waren. Nur in Rom hat das Proletariat gekämpft, die revolutionären Arbeitertruppen stießen hier mit den Faschisten zusammen und es gab Verwundete. Am nächsten Tage hat die “Guardia Regia“ die Arbeiterviertel besetzt und sie aller Verteidigungsmittel beraubt, so dass die heranziehenden Faschisten die Arbeiter kaltblütig niederschießen konnten. In den Kämpfen in Italien war dies die blutigste Episode.

Der Allgemeine Gewerkschaftsbund (CGL) entwaffnete den von der KPI vorgeschlagenen Generalstreik und forderte die Arbeiter auf, den von den revolutionären Gruppen ausgegebenen “gefährlichen“ Weisungen nicht zu folgen. Es wurde sogar das Gerücht gestreut, die Kommunistische Partei habe sich aufgelöst – just in dem Augenblick, wo unsere Presse nicht erscheinen konnte. Das für unsere Partei schlimmste Ereignis war die Besetzung der Redaktion der “Il Comunista“ in Rom. Am 31. Oktober wurde die Druckerei in dem Moment besetzt, in dem die Zeitung ausgeliefert werden sollte, 100.000 Faschisten hielten die Stadt im Belagerungszustand. Allen Redakteuren war es gelungen, sich durch Nebenausgänge in Sicherheit zu bringen, mit Ausnahme des Genossen Togliatti, des Chefredakteurs, der in seinem Büro war. Die Faschisten stürmten rein und wurden seiner habhaft. Aufrecht erklärte er, der Chefredakteur der “Il Comunista“ zu sein; schon wurde er an die Wand gestellt, derweil die Faschisten die Menge zurücktrieben, um die Exekution vorzunehmen. Der Genosse entging ihr nur, weil die Faschisten auf die Meldung hin, die übrigen Redakteure seien über die Dächer entflohen, ihnen nachsetzten. Das hat unseren Genossen einige Tage später nicht gehindert, auf dem Treffen in Turin anlässlich der Jahresfeier der russischen Revolution eine Rede zu halten.

Aber dies ist nur ein Detail. Die Organisation unserer Partei befindet sich in ziemlich gutem Zustand. Wenn die “Il Comunista“ nicht erscheint, dann nicht, weil, sie verboten wurde, sondern weil die Druckerei sich weigerte den Auftrag auszuführen. Wir haben deshalb in einer illegalen Druckerei gedruckt. Die Schwierigkeiten der Herausgabe waren nicht technischer Natur, sondern beruhten auf wirtschaftlichem Druck.

In Turin wurde der Sitz des “l’Ordine Nuovo“ besetzt und die Waffen, die dort gefunden wurden, beschlagnahmt. Doch die Zeitung wird jetzt anderswo gedruckt. Auch in Triest hat die Polizei die Druckerei des “Il Lavoratore“ überfallen, dieses Organ erscheint jetzt ebenfalls illegal. Unsere Partei hat noch die Möglichkeit, legal zu arbeiten und unsere Lage ist nicht tragisch. Aber man weiß nicht, wie sich die Dinge weiter entwickeln werden, und deshalb kann ich mich, was die zukünftige Lage unserer Partei und unserer Arbeit angeht, nicht allzu weit vorwagen. Der vor kurzem eingetroffene Genosse ist Führer einer wichtigen Ortsgruppe unserer Partei, und er vertritt die auch von vielen anderen Mitgliedern geteilte Auffassung, dass man von nun an besser als früher werde arbeiten können. Ich will diese Ansicht nicht als definitiv verstanden wissen. Aber der Genosse ist ein Kämpfer, der wirklich unter den Massen arbeitet, und seine Meinung hat großes Gewicht.

Ich habe schon gesagt, dass die gegnerische Presse die Falschmeldung über die Auflösung unserer Partei verbreitet hat. Wir haben ein Dementi veröffentlicht und das Ganze richtiggestellt. Unsere zentralen politischen Organe, unsere illegale militärische Zentrale, unsere Gewerkschaftszentrale arbeiten fieberhaft und die Verbindungen zur Provinz sind fast überall wiederhergestellt. Die Genossen in Italien haben keinen Augenblick den Kopf verloren und tun das, was nötig ist. Und die Sozialisten? Der Sitz des “Avanti!“ ist durch die Faschisten zerstört worden und es wird eine Weile dauern, bis die Zeitung wieder erscheinen kann. Auch der Sitz der SPI in Rom wurde verwüstet, die Archive verbrannt. Eine Stellungnahme der Maximalisten zu der Polemik zwischen der Kommunistischen Partei und dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund haben wir weder in schriftlicher noch in mündlicher Form. Was die Reformisten betrifft, so geht aus ihren weiter erscheinenden Zeitungen klar hervor, dass sie sich der neuen Regierung anschließen werden.

Hinsichtlich der Gewerkschaftsfrage ist der Genosse Repossi von unserem Gewerkschaftskomitee der Ansicht, dass die Arbeit weitergehen kann 6).

Das sind die Informationen, datierend vom 6. November, die wir erhalten haben.

Meine Rede ist lang geworden; auf die Frage, welche Position unsere Partei während der ganzen Entwicklungsphase des Faschismus eingenommen hat, werde ich jetzt nicht mehr eingehen: ich behalte mir vor, das bei anderen Tagesordnungspunkten nachzuholen. Wir wollen nur noch die Frage nach Aussichten für die nächste Zeit stellen. Wir haben gesagt, der Faschismus wird infolge der Regierungspolitik mit Unruhe unter den Massen rechnen müssen. Doch wir wissen alle sehr wohl, dass, wenn eine Regierungspartei die Befehlsgewalt über eine militärische Organisation hat, es leichter ist, mit den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen ebenso wie mit der Unzufriedenheit fertig zu werden. Wenn die historische Entwicklung wieder für uns sprechen wird, wird der Faktor der militärischen Organisation in der Diktatur des Proletariats überaus entscheidend sein. Jedenfalls sind die Faschisten ausgezeichnet organisiert und haben klare Ziele. Unter diesen Umständen ist vorhersehbar, dass die Stellung der Faschisten sich wohl als stabil erweisen wird.

Wie ihr gesehen habt, habe ich die Bedingungen, unter denen unsere Partei gekämpft hat, nicht übertrieben. Es geht hier nicht um moralische Aspekte. Die KPI hat vielleicht Fehler gemacht; man kann sie kritisieren, aber ich glaube, zum gegenwärtigen Zeitpunkt zeugt die Haltung der Genossen davon, dass wir gute Arbeit geleistet haben, nämlich die Bildung einer revolutionären Partei des Proletariats – Grundlage für die Wiedererhebung der Arbeiterklasse Italiens.

Die italienischen Kommunisten können verlangen, als das, was sie sind, gesehen zu werden. Auch wenn ihr Verhalten nicht immer gebilligt wurde, spüren sie doch, sich gegenüber der Revolution und der Kommunistischen Internationale nichts vorzuwerfen zu haben.




1 Salandra, Antonio (1853-1931): rechtsliberaler Politiker
2 Nitti, Francesco Saverio (1868-1953): vom Juni 1919 bis Mai 1920 Ministerpräsident. Giolitti, Giovanni (1842-1928): ebenso wie Nitti Liberaler und Antifaschist, mehrere Male – zwischen Juni 1920 und April 1921 – als Krisenmanager zum Ministerpräsidenten berufen.
3 Guardia Regia (Königliche Garde), im Oktober 1919 gegründet.
4 Facta, Luigi (1861-1930) war der letzte Ministerpräsident vor Mussolinis Machtübernahme.
5 Fiume Verfassung: die Italienische Regentschaft am Quarnero (italienisch: Reggenza Italiana del Carnaro) wurde am 8. September 1920 von Gabriele D’Annunzio in Fiume (heute Rijeka in Kroatien) ausgerufen.
6 Repossi, Luigi (1882-1957) war Gründungsmitglied der KPI, Mitglied des Exekutivkomitees der Partei.