Internationale Komunistische Partei Das invariante und einheitliche Werk der Partei

 

Beiträge zur Organischen-Historischen Repräsentation der Revolutionären marxistischen Theorie
 


Tagung in Mailand,
7. September 1952
  – Die historische „Invarianz“ des Marxismus
  – Der Aktivismus als falsches Hilfsmittel
Tagung in Forlì,
28. Dezember 1952
  – Theorie und Aktion
  – Das unmittelbare revolutionäre Programm
Tagung in Genua,
26. April 1953
  – Die multiple Revolutionen
  – Die antikapitalistische Revolution im Westen
     [Nicht auf Deutsch vorhanden]







DIE HISTORISCHE „INVARIANZ“ DES MARXISMUS

 

1. Der Begriff „Marxismus“ bezeichnet nicht eine Theorie die durch eine Person – Karl Marx – entdeckt oder eingeführt wurde, sondern die Lehre, die zur selben Zeit wie das moderne Industrieproletariat entstanden ist und dieses während des ganzen Verlaufs der sozialen Revolution begleitet. Wir bestehen auf dem Begriff Marxismus trotz aller Spekulationen und trotz seiner missbräuchlichen Ausbeutung durch so viele konterrevolutionäre Bewegungen.

2. In seiner alleingültigen Bedeutung kennt der Marxismus heute drei Hauptgruppen von Gegnern. Die erste Gruppe: die Bourgeois, die behaupten die kapitalistische und warenproduzierende Wirtschaft sei endgültig, und leugnen, dass sie von der sozialistischen Produktionsweise aufgehoben werden könne. Sie verwerfen also die Lehre vom ökonomischen Determinismus und vom Klassenkampf total; ihre Stellung ist völlig konsequent. Die zweite Gruppe – sogenannte Kommunisten stalinistischer Prägung – behaupten zwar die historische und ökonomische marxistische Lehre zu übernehmen, verteidigen und stellen jedoch selbst in den kapitalistischen Ländern Forderungen auf, die nicht revolutionär sind, sondern die jenen der traditionellen Reformisten gleichen bzw. noch schlimmer sind. Dies erscheint sowohl auf dem politischen Gebiet (Demokratie) wie auch auf dem wirtschaftlichen als ein „Fortschritt für das Volk“. Die dritte Gruppe: Marxisten, die sich zur revolutionären Lehre und Methode bekennen, die jedoch ihre augenblickliche Niederlegung von Seiten der Mehrheit des Proletariats auf Mängel und Lücken in der ursprünglichen Theorie zurückführen. Sie behaupten also, dass man den Marxismus berichtigen müsse.
     Ob Leugner, Fälscher oder Modernisierer: wir bekämpfen sie alle drei, und wir denken, dass heute die letzteren die schlimmsten sind.

3. Die Geschichte der marxistischen Linken, des radikalen Marxismus, oder genauer gesagt, des Marxismus, entspricht dem immer erneuten Widerstand gegen alle Anstürme des Revisionismus, der verschiedene Punkte der Theorie und der Methode angegriffen hat, seitdem sie organisch und aus einem Block entstanden sind - was mit dem Manifest des Jahres 1848 zusammenfällt.
     An anderen Stellen erwähnen wir die Geschichte dieser Kämpfe in den drei historischen Internationalen: gegen die Utopisten, Ouvrieristen, Anarchisten, Sozialdemokraten, Reformisten und Gradualisten, Links- und Rechtsgewerkschaftler, Sozialpatrioten und heute besonders gegen die Nationalkommunisten und Volkskommunisten. Dieser Kampf zieht sich über vier Generationen hin und ist in seinen verschiedenen Phasen nicht auf berühmte Namen zurückzuführen, sondern auf eine fest bestimmte und zusammenhängende Schule, kurz auf eine ganz bestimmte Partei im historischen Sinne.

4. Diese lange und harte Kampf wäre ohne Verbindung mit seinem künftigen Wiederaufflammen, wenn man, anstatt daraus die Lehre der Unveränderlichkeit des Marxismus zu ziehen die banale Idee akzeptierte, der Marxismus sei in unaufhörlicher historischer Ausarbeitung begriffen und verändere sich angeblich mit dem Lauf und den Erfahrungen der Ereignisse.
     Dies ist in der Tat die unveränderliche Rechtfertigung allen Verrats, dessen Erfahrungen sich angehäuft haben, –und aller Niederlagen der Revolution.

5. Die Materialisten bestreiten, dass ein in einem bestimmten historischen Moment entstandenes theoretisches System (oder noch schlimmer ein dem Geist einer bestimmten Person, eines Denkers oder historischen Führers entsprungenes und in seinem Werk niedergelegtes System) den gesamten zukünftigen historischen Verlauf darstellen und unwiderruflich seine Prinzipien und Regeln aufstellen könne. Dies heißt jedoch nicht, dass es keine dauerhaften Prinzipiensysteme geben kann, die für eine sehr lange historische Periode unverändert gültig sind. Sonst gäbe es keine einheitliche Theorie des Proletariats, auf der es in allen Ländern und durch die verschiedenen Generationen hindurch handeln könnte.
     Die Dauerhaftigkeit und der Widerstand jeder historischen Klassentheorie gegen das Zerstörungswerk und selbst die Verbesserungsversuche sind ureigenster Bestandteil der Stärke der entsprechenden sozialen Klasse, und widerspiegeln ihre historischen Aufgaben und Interessen. Jedoch darf man nicht die Aufeinanderfolge dieser Systeme von Lehre und Praxis mit dem Erscheinen genialer Individuen verbinden. Die Systeme hängen mit den aufeinanderfolgenden Produktionsweisen zusammen, d.h. den Formen der materiellen Organisation der jeweiligen menschlichen Gemeinschaften.

6. Der dialektische Materialismus hat selbstverständlich den formalen Inhalt der Lehrgebäude aller großen historischen Perioden als irrig erkannt. Jedoch verwirft er sie nicht insofern sie ihrer Zeit entsprachen, und notwendig gewesen sind. Noch weniger bildet er sich ein, dass der Irrtum durch bessere Überlegung der Gelehrten oder der Gesetzgeber vermeidbar gewesen wäre, und dass man ihre Fehler früher hätte erkennen können! Jedes System besitzt in seinem eigenen System den Grund und die Erklärung seines Bestehens – und die Systeme beweisen ihre Bedeutung dadurch, dass sie sich durch lange Kämpfe hindurch unverändert erhalten, und dabei immer ihre volle organische Integralität bewahrt haben.

7. Dem Marxismus zufolge gibt es keinen andauernden und ununterbrochenen Fortschritt in der Geschichte, – vor allem nicht in der Organisation der Produktionsquellen. Es gibt vielmehr eine Reihe von in Abständen erfolgenden Vorwärtssprüngen, die den gesamten ökonomischen und sozialen Apparat tiefgreifend und von Grund auf umwälzen. Während sehr langer Zeit bleiben die Verhältnisse unverändert, dann gestaltet sich alles in gewaltigen Umwälzungen, Katastrophen und jähen Krisen binnen kurzer Zeit um – kurz in Umbrüchen, wie sie in der physischen Welt, auf den Sternen des Kosmos, in der Geologie und sogar in der Stammesentwicklung lebender Organismen vorkommen.

8. Auch die Klassenideologie, – d.h. der Überbau der verschiedenen Produktionsweisen – bildet sich nicht durch eine tagtägliche Zufuhr von Wissensatomen, sondern sie erscheint in einer durch einen gewaltsamen Stoß verursachten Erschütterung. Das so entstandene System leitet die Klasse, deren Ausdruck es ist, in einer einheitlichen und beständigen Form durch eine lange Reihe von Kämpfen und Bemühungen bis zur kritischen Phase, bis zur nächsten Revolution.

9. Obwohl sie immer bereit sind die sozialen Revolutionen der Vergangenheit voll zu rechtfertigen, behaupten die Lehren des Kapitalismus, dass von der bürgerlichen Revolution ab die Geschichte in schrittweisen Etappen und ohne neue soziale Katastrophen fortschreiten würde. Dabei sollen die ideologischen Systeme in fortschreitendem Masse die Beiträge wie die Errungenschaften der reinen und angewandten Wissenschaften in sich aufnehmen. Der Marxismus hat die Falschheit dieser Perspektive für die Zukunft aufgezeigt.

10. Der Marxismus selbst kann keine Theorie sein, die man jeden Tag durch neue Beiträge, wahrhaftiges Flick- und Ausbesserungswerk, neu bildet und verbildet. Der Grund dafür ist, dass er noch die Lehre einer ausgebeuteten und geknechteten Klasse ist, die noch die bestehenden sozialen Verhältnisse umzustürzen hat, und die im Laufe des Kampfes unter der Last eines allseitigen konservativen Einflusses der traditionellen Formen und Ideologien der ihm feindlichen Klassen steht.

11. Das Ziel der arbeitenden Klasse ist Bestandteil ihrer Theorie, und dies bedeutet, dass man von heute an – oder vielmehr seitdem das Proletariat auf der historischen Bühne erschienen ist – die Geschichte der zukünftigen klassen- und revolutionslosen Gesellschaft voraussehen kann. Es muss noch bekräftigt werden, dass während des sehr langen Zeitabschnittes vor diesem Ziele die revolutionäre Klasse nur unter der Bedingung ihre Aufgabe ausführen kann, dass sie während ihres ganzen langen Kampfes nach einer Theorie und einer Methode handelt, die in einem felsenfesten Programm bestimmt sind; wohlgemerkt: die Zahl der Kämpfer und der Ausgang der sozialen Zusammenstöße sind in den mannigfaltigen Phasen äußerst verschieden.

12. Das theoretische Gut der revolutionären Arbeiterklasse ist weder eine Offenbarung noch ein Mythos, noch eine idealistische Ideologie, wie es für die vorhergehenden Klassen zutraf. Es ist eine positive Wissenschaft, und bedarf einer festen und dauerhaften Formulierung ihrer Prinzipien und ihrer Aktionsregeln. Diese Formulierung soll die gleiche Rolle spielen und die gleiche bestimmende Wirksamkeit haben wie in der Vergangenheit die Dogmen, der Katechismus, die Tafeln, die Verfassungen, die Leitbücher der Vedas, der Talmut, die Bibel, der Koran und die Erklärung der Menschenrechte. Die grundlegenden Irrtümer in der Substanz oder der Form, die in diesen Sammelwerken enthalten waren, haben ihnen nichts von ihrer außerordentlichen organisatorischen und sozialen Kraft genommen; sie waren in dialektischer Folge zuerst revolutionär, dann konterrevolutionär – aber es war oft gerade diese feste Systematisierung, selbst wenn sie diese Irrtümer enthielt, die zu ihrer Kraft beigetragen hat.

13. Der Marxismus spricht der Suche nach der absoluten Wahrheit jeden Sinn ab, und er sieht in der Lehre nicht die Größe des ewigen Geistes oder der abstrakten Vernunft, sondern ein Arbeitsinstrument und eine Kampfwaffe. Daher legt er seine Waffe oder sein Instrument nicht mitten in der größten Anstrengung oder im Höhepunkt der Schlacht ab, um sie zu flicken: Nur wer von Anfang an über gute Werkzeuge und gute Waffen verfügt, geht im Frieden wie im Krieg als Sieger hervor.

14. Eine neue Lehre entsteht nicht in einem beliebigen Moment der Geschichte. Es gibt bestimmte, sehr charakteristische – und äußerst seltene – Zeiten in der Geschichte, wo sie wie ein blendendes Lichtbündel erscheinen kann; und wenn man diesen entscheidenden Moment nicht erkannt hat, dann ist es vergebens wieder auf die Kerzenstummel zurückzugreifen, mit denen der Universitätspedant oder der kleingläubige Kämpfer ihren Weg zu erhellen suchen.

15. Für die moderne Proletarierklasse, die sich zuerst in den Ländern mit hoher industrieller kapitalistischer Entwicklung gebildet hat, ist die Finsternis kurz vor der Vollendung der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durchbrochen worden.
     Die vollständige Lehre, an die wir glauben, glauben wollen und müssen, hat in diesem Augenblick alle Bedingungen gefunden, um sich zu bilden, um einen historischen Lauf zu beschreiben, indem sie sich in gewaltigen Kämpfen erproben und bestätigen wird. Entweder bleibt diese Position gültig, oder aber die Lehre wird als falsch erkannt – und erledigt somit die marxistische Behauptung, wonach mit dem Proletariat eine neue Klasse mit spezifischem Programm, Charakter und besonderer revolutionärer Funktion in der Geschichte erschienen ist. Wer also Teile, Thesen und wesentliche Artikel des marxistischen „Corpus“ auswechselt, den wir seit etwa einem Jahrhundert besitzen, der zerstört seine Kraft in weitaus schlimmerer Weise als derjenige, der sie offen verleugnet und ihren Bankrott verkündet.

16. Nach der explosiven Periode, wo die Neuheit der jungen Forderung desto klarer erscheint als die Ereignisse sich überstürzen und sich scharf vom Alten abgrenzen, ist es möglich, dass man eine Periode erlebt, wo das Klassenbewusstsein anstatt sich zu heben und zu bessern, zurückgeht und entartet – dies tritt wegen der Stabilisierung der Verhältnisse ein. Die ganze Geschichte des Marxismus beweist, dass in den Momenten, wo der Klassenkampf sich wieder verschärft, die Theorie mit wuchtigen Bestätigungen zurück zu ihren Ursprüngen und zu ihrem ersten vollständigen Ausdruck drängt; es sei an die Pariser Kommune, die bolschewistische Revolution und die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg im Westen erinnert.

17. Das Prinzip der historischen Unveränderbarkeit der Theorie, die die Aufgaben einer die Entwicklung vorantreibenden Klasse widerspiegelt, und die gewaltige Rückkehr zur Urfassung, wiederholen sich in allen großen historischen Perioden. Dies widerspricht der belanglosen Hypothese, dass jede neue Generation, jede Saison der intellektuellen Mode besser wäre als die vorhergehenden. Dasselbe gilt für das dumme Klischee des unaufhörlichen Ganges des menschlichen Fortschritts und andere bürgerliche Schrullen, unter denen es heute kaum welche gibt, die sich nicht das Beiwort marxistisch zulegen.

18. Alle Mythen beruhen auf dem Prinzip der Unveränderlichkeit. Besonders die, die von Halbgöttern oder Weisen erzählen, dass sie bei einer Begegnung mit dem höchsten Wesen inspiriert wurden. Es ist dumm über diese Vorstellung zu lachen. Erst der Marxismus ist imstande ihre wirklichen und materiellen Grundlagen zu entdecken. Rama, Moses, Christus, Mohammed, alle Propheten und Helden sind in die jahrhundertjährige Geschichte der verschiedenen Völker einzureihen. Sie sind alle Ausdruck der Tatsache, dass ein ungeheurer Sprung in der Produktionsweise stattgefunden hat. In der Mythologie der Helden entspringt die Weisheit, d.h. Minerva, aus dem Kopf des Jupiters nicht weil er dicke Bände von kraftlosen Schreibern gelesen, sondern weil der Arbeitergott Vulkanus, der gerufen wurde um eine anhaltende Migräne des Göttervaters zu beruhigen, ihm einen Hammerschlag auf den Kopf gab. Am anderen Ende der Geschichte erhebt sich Gracchus Babeuf einem Riesen gleich gegen die Lehre der neuen Göttin Vernunft, um zu verkünden, obgleich ungeschliffen in seiner theoretischen Darstellung, dass die physische und materielle Kraft weiter führt als die Vernunft und das Wissen.

19. Es fehlt nicht an Beispielen von Restauratoren, die gegen revisionistische Entartung kämpften: die Gracchen Brutus gegenüber; Franz von Assisi Christus gegenüber, als das Christentum, das für soziale Erlösung des kleinen Volkes entstanden, sich an den Höfen der mittelalterlichen Ritter breitmachte; und später gilt das für die Vorläufer einer noch bevorstehenden Klasse gegenüber, Revolutionären, die bereits die heroische Phase der vorhergehenden Klassen geleugnet hatten: Kämpfe von 1831 in Frankreich, 1848er-, 1849er-Kämpfe, – und für unzählbar andere Phasen in Europa.

20. Wir behaupten, dass alle wichtigen Ereignisse von heute unanfechtbare und vollständige Bestätigungen der marxistischen Theorie und Voraussage darstellen. Wir haben vor allem die materiellen Gründe im Auge, die (wiederum) zur Folge hatten, dass die Massen das Klassenterrain verließen. Es sind dies zum einen das Aufkommen, nicht nur im Westen sondern in der ganzen Welt – zentralisierter und totalitärer Formen des Kapitalismus auf ökonomischem wie auf politischem Gebiet: mit Planwirtschaft, Staatskapitalismus und offener bürgerlicher Diktatur; zum anderen der Entwicklungsprozess Russlands und Asiens, der fälschlich als sozialistisch bezeichnet wird. Nach diesem Krieg schien es dadurch als ob der Kapitalismus einen neuen Weg eingeschlagen hätte, und dies brachte sogar jene in Verlegenheit, die die Moskauer Positionen als vollkommen opportunistisch verurteilen.
     Die Bestätigung unserer Lehre ist untrennbar mit der Tatsache verbunden, dass sie in einem entscheidenden historischen Wendepunkt aus einem Guss entstanden ist.

21. Wem es gelingen würde die historischen Ereignisse unserer vulkanischen Epoche in Widerspruch zur marxistischen Theorie zu bringen, der würde den Beweis erbringen, dass sie falsch und zertrümmert ist, und dass es ein vergebliches Unterfangen ist den Gang der Geschichte aus den ökonomischen Verhältnissen ableiten zu wollen. Gleichzeitig wäre damit bewiesen, dass die Ereignisse in jeder Phase neue Ableitungen, Erklärungen und Theorien brauchen, und folglich dazu zwingen neue und andere Wege zum Handeln zu suchen.

22. Es ist nur eine illusorische Lösung angesichts momentaner Schwierigkeiten eine Veränderung der Grundlinie zu gestatten, indem man behauptet, dass gerade heute der Moment sei, die Grundlinie um ein neues Kapitel zu erweitern, als könne ein solcher Gedankengang die ungünstige Situation umkehren. Außerdem ist es lächerlich, dass dies unternommen wird von lächerlich kraftlosen Gruppen, die noch dazu Mittel der freien Diskussion gebrauchen, indem sie im Lilliputanermaßstab den bürgerlichen Parlamentarismus und die traurige Auseinandersetzung individueller Meinungen nachäffen –was kein neues Rezept sondern eine alte Dummheit ist.

23. Heute gehen wir durch einen Moment des äußersten Niedergangs der revolutionären Kraft: ein solcher Augenblick ist alles andere als günstig für das Entstehen neuer historischer Theorien! In einer Periode ohne nahe Aussicht auf eine große soziale Umwälzung ist nicht nur der politische Zerfall der proletarischen Weltklasse notwendiges Ergebnis der Lage, sondern es ist auch logisch, dass es nur eine kleine Gruppe geben kann, die imstande ist den historischen Faden des langwierigen revolutionären Laufs festzuhalten, der wie ein gewaltiger Bogen zwischen zwei sozialen Revolutionen gespannt ist. Bedingung ist, dass diese Gruppe nichts Neues verbreiten will und sich streng an die traditionellen Formulierungen des Marxismus gebunden fühlt.

24. Die Kritik und das Anzweifeln aller alten, traditionellen Positionen waren entscheidende Momente der großen bürgerlichen Revolution. Mit ungeheurer Wucht wandte sie sich gegen die alten Wissenschaften der Natur, zerbrach die herrschende politische und militärische Macht, und wandte sich dann mit nicht minder bilderstürmerischem Eifer den Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften zu. Dies kennzeichnete Perioden tiefgreifender Umwälzungen, vom Mittelalter des Lehensystems und des Landadels zum modernen kapitalistischen Industriezeitalter. Die Kritik war die Wirkung und nicht der Antrieb dieses ungeheuer verwickelten Kampfes.

25. Der Gewissenszweifel und die Entwicklung des individuellen Geistes sind Ausdruck der bürgerlichen Reform gegen die erstarrte Tradition und Autorität der christlichen Kirche; sie fanden ihren Niederschlag im heuchlerischen Puritanismus, der die neue Klassenherrschaft und die letzte Form der Knechtung der Massen ergänzt und verteidigt unter dem Banner der bürgerlichen Anpassung an religiöse Moral und individuelles Recht. Völlig entgegengesetzt ist der Weg der proletarischen Revolution, wo das individuelle Bewusstsein Nichts ist, und die einheitliche Leitung der Massenaktion Alles.

26. Wenn Marx in seiner berühmten These über Feuerbach sagt, dass die Philosophen die Welt interpretiert haben, und dass es sich jetzt darum handele sie zu verändern, wollte er damit nicht sagen, dass der Wille zur Veränderung die Tatsache der Veränderung bedingt. Er meinte vielmehr zuerst habe man die Veränderung, die durch die Erschütterung der kollektiven Gewalt bedingt wird, und erst dann entwickele sich das kritische Bewusstsein von der Veränderung bei den Individuen. Diese handeln nicht aufgrund individueller Entscheidungen, sondern unter der Wirkung von Einflüssen, die dem Wissen und dem Bewusstsein vorausgehen.
     Mit dem Übergang von der Waffe der Kritik zur Kritik der Waffen geht man auch vom denkenden Subjekt zur kämpfenden Masse über. Jetzt sind die Waffen nicht nur Gewehre und Kanonen, sondern die wirkliche Waffe ist die kollektive Theorie der Partei, die unveränderlich aus einem Guss entstanden ist, und an die wir alle gebunden sind und der wir nur zu folgen haben. Und somit beseitigt man ein für allemal Diskussionen wie sie Klatschtanten und Pedanten führen.

 

 

 

  



DER AKTIVISMUS ALS FALSCHES HILFSMITTEL

  

1. Ein geläufiger Einwand, der seinerseits nicht neu ist, sondern schon immer die schlimmsten Entartungsepisoden der Bewegung begleitet hat, besteht darin, die Klarheit und Beständigkeit der Prinzipien zu entwerten, um zum „politischen Handeln“ und zum Sich-fortreißen-lassen vom Sog der Bewegung anzuspornen, wodurch der richtige Weg auftun würde. Also: nicht durch Anwendung der Texte und Bewertung früherer Erfahrungen zu fundierten Entscheidungen kommen, sondern ohne weiteres und ohne festen Halt im Pulsieren der Handlung fortgehen.

2. Dieser Praktizismus ist seinerseits eine Entstellung des Marxismus, sei es, dass er dem Entscheidungsvermögen und dem Spürsinn von theoretisch unbedarften Führern und Vortruppsgruppen den Vorrang gäbe, sei es, dass er zu einer Entscheidung und Befragung der „Klasse“ und deren Mehrheit führe, unter dem Vorwand, den Weg zu wählen, den die Mehrzahl der von ihren wirtschaftlichen Interessen bewegten Arbeiter vorzieht. Es handelt sich hier um alte Kniffe, und [kein] einziger Verräter, der sich an die herrschende Klasse verkauft hat, ist je gegangen, ohne vorher behauptet zu haben: erstens, dass er der beste und aktivste Vorkämpfer der „praktischen“ Interessen der Arbeiter wäre, und zweitens, dass er jetzt nach dem ausdrücklichen Willen der Masse seiner Anhänger... oder Wähler handele.

3. Die revisionistische Abweichung, zum Beispiel jene evolutionistische, reformistische und legalitäre von Bernstein, war ihrem Wesen nach aktivistisch und nicht überspitzt deterministisch. Es ging nicht darum, das weitergreifende revolutionäre Ziel durch das Wenige zu ersetzen, das die Arbeiter in einer bestimmten Situation erreichen konnten, sondern vielmehr darum, vor der brennenden Auffassung des geschichtlichen Bogens die Augen zu schließen und zu sagen: das mittelbare Ergebnis ist alles; stecken wir nicht weltweit sondern örtlich und zeitweilig begrenzt unmittelbare Ziele ab, und dann werden wir solche Ergebnisse nach unserem Willen gestalten können. Die sorelianischen Gewaltanhänger unter den Gewerkschaftlern sagten dasselbe und erlebten dasselbe Ende: die ersten versuchten eher, gesetzgeberische Maßnahmen parlamentarisch durchzusetzen, die zweiten Erfolge im Betrieb oder in der Berufskategorie - beide kehrten den historischen Aufgaben Rücken.

4. Alle diese und andere tausend Formen von „Eklektizismus“, d.h. der geforderten Freiheit, die Fronten und die Theorie zu ändern, begannen mit einer Verfälschung, nämlich jener, dass die Weisungen und Texte von Marx und Engels eine solche „Korrektur“ des Endzieles und Anpassung an Umwege gestatteten. In all unserer Arbeit haben wir mit der Wiedergabe von Abhandlungen und ausschöpfenden Zitaten, die Beständigkeit der Linie nachgewiesen, unter anderem in der Schärfe, mit der die späteren Werke und Texte sich auf grundlegende Stellen und Theorien der ersten mit den allergleichen Worten und mit derselben Tragweite beriefen

5. Leere Legende ist also jene der zwei sukzessiven „Seelen“ des jungen und reifen Marx. Der erste wäre noch ein Idealist, Voluntarist und Hegelianer, und, unter dem Einfluss der letzten Zuckungen der bürgerlichen Revolutionen, ein Barrikadenkämpfer und Aufständischer; der zweite - Realist, Evolutionist, legalitäre - hätte sich in einen kalten Analytiker der zeitgenössischen ökonomischen Erscheinungen gewandelt. Gerade die wiederholten Abweichungen in der langen, von uns so oft illustrierten Reihe, sind – ob sie sich nun im vulgären Sinn als Extremisten oder als Gemäßigte vorgeben – da sie sich an die revolutionäre Spannung des dialektischen Materialismus nicht halten, in einen gleichermaßen bürgerlichen, idealistischen, individualistischen, „aufklärerischen“ Abweg geraten. Geschwätzige, „konkrete“ und zufällige Tätigkeit; Passivität; unüberwindbare revolutionäre Ohnmacht im weltgeschichtlichen Maßstab.

6. Es genügt, daran zu erinnern, dass die Schlussfolgerung des ersten Bandes vom „Kapital“ mit der Beschreibung der Expropriation der Expropriateure in einer Fußnote darauf hinweist, nichts anderes zu sein als die Wiederholung der entsprechenden Stelle vom „Manifest“. Die Wirtschaftstheorien des zweiten und des dritten Bandes sind nichts anderes als Ausarbeitungen auf der Grundlage der Wert- und Mehrwerttheorie des ersten Bandes, mit denselben Termini, Formeln und sogar Symbolen, und der Versuch von Antonio Graziadei, diese in Frage zu stellen, war vergeblich. Willkürlich ist auch die Trennung zwischen dem analytischen Teil mit der Beschreibung des Kapitalismus und dem programmatischen Teil mit der sozialistischen Forderung. Alle Abweichler haben gezeigt, dass sie sich niemals die Kraft der marxistischen Kritik des Utopismus angeeignet hatten, genauso wie sie sich nie die Kraft der Kritik des Demokratismus aneignen konnten. Es geht nicht darum, sich ein Ziel auszumalen und sich mit dem Träumen zufrieden zu geben, oder zu hoffen, dass seine rosigen Farben alle dazu bewegen würden, den Traum zu verwirklichen, sondern darum, materiell und solide das zu erlangende Ziel zu erkennen und darauf direkt zuzusteuern in der Gewissheit, dass menschliche Blindheit und Unwissenheit die Realisierung dieses Zieles nicht beeinträchtigen können.

7. Es ist fundamental richtig, dass Marx die Bindung (die die besten Utopisten bereits geahnt hatten) zwischen dieser weit entfernten Realisierung und der heutigen materiellen Bewegung einer bereits kämpfenden sozialen Klasse – des modernen Proletariats – festgehalten hat. Das genügt aber nicht, um die ganze Dynamik der Klassenrevolution zu begreifen. Wenn man das Bauwerk Marx’ kennt – dessen Abschluss ihm verwehrt wurde – sieht man, dass er es mit folgender Frage krönen wollte – das aber ohnehin in seinen Gedanken und Texten klar behandelt wurde -: mit der Frage des unpersönlichen Charakters und Handelns der Klasse.
     Mit dieser Abhandlung wird die ganze ökonomische und gesellschaftliche Konstruktion in der einzigen Form gekrönt, die der Methode entspricht, die die Behandlung solcher Fragen überhaupt ermöglichte.

8. Es würde nicht genügen zu sagen, dass der marxistische Determinismus die Qualität und die Aktivität des Denkens oder des Kampfes von außergewöhnlich begabten Menschen als Antriebskraft der historischen Ereignisse ausschließt (übrigens: man verwechsle nicht die Antriebsursache mit dem vollziehenden Medium), um sie durch die Klassen als statistische Gemeinschaften von Individuen zu ersetzen, und dadurch nur die idealen Faktoren des Bewusstseins und der Kollektivität vom Einzelnen auf die Menge zu übertragen. Das würde nur bedeuten, von einer aristokratischen zu einer volkstümlich-demokratischen Philosophie überzugehen. Letztere ist von uns doch weiter entfernt als die erste. Es handelt sich im Gegenteil darum, die Position der Ursache umzukehren und sie außerhalb des Ideenbewusstseins, also in physischen und materiellen Tatsachen zu suchen.

9. Die marxistische These besagt, dass es vor allem nicht möglich ist, dass das Bewusstsein vom historischen Weg vorweggenommen in einem einzelnen menschlichen Kopf erscheine, und zwar aus zwei Gründen: der erste besteht darin, dass das Bewusstsein dem Sein, d.h. den materiellen Bedingungen um den Bewusstseinsträger selbst, nicht vorausgeht, sondern ihm folgt; der zweite besteht darin, dass alle Formen des sozialen Bewusstseins aus den parallelen und gleichartigen wirtschaftlichen Verhältnissen entstehen (und zwar immer um eine Phase verzögert, um der allgemeinen Determination ihre Zeit zu geben), in denen sich Massen von Individuen befinden, die eine soziale Klasse bilden.
     Historisch viel früher, als sie „gemeinsam denken“ können, werden diese zum „gemeinsamen Handeln“ gezwungen. Die Theorie dieses Verhältnisses zwischen den Bedingungen der Klasse und der Klassenaktion mit ihrem zukünftigen Endziel bezieht sich nicht auf Personen, in dem Sinne dass sie sich nicht auf einen vereinzelten Autor oder Führer bezieht und nicht einmal auf die „ganze Klasse“ als augenblickliche rohe Summe von Individuen in einem bestimmten Land oder in einer bestimmten Zeit; sie kann daher umso weniger von einer hyper-bürgerlichen „Befragung“ innerhalb der Klasse abgeleitet werden.

10. Für uns ist die Diktatur des Proletariats keine beratende Demokratie, die sich auf die Grenzen der Klasse beschränkt, sondern die organisierte historische Kraft, die - gefolgt von einem Teil des Proletariats und unter Umständen nicht einmal von seiner Mehrheit - zu einem bestimmtem Zeitpunkt den materiellen Druck ausübt, der die alte bürgerliche Produktionsweise sprengt, um den Weg zur neuen Produktionsweise, zum Kommunismus, zu bahnen.
     In diesem Zusammenhang bilden - worauf Marx immer hingewiesen hat - die Abtrünnigen der herrschenden Klasse, die auf die revolutionäre Seite überlaufen, einen nicht zu unterschätzenden Faktor. Sie bilden ein Gegengewicht zu der Aktion von ganzen proletarischen Massen, die aus materieller oder geistiger Unterwürfigkeit im Dienste der Bourgeoisie stehen, und die fast immer den statistisch größten Teil umfassen.

11. Die ganze Bilanz der russischen Revolution führt unsere Strömung nicht im geringsten dazu, ihre Passiva auf die Verletzung der inneren Klassendemokratie zurückzuführen, oder dazu, an der marxistischen und leninistischen Theorie der Diktatur zu zweifeln, deren Kriterien und Grenzen sich nicht von verfassungsmäßigen oder organisatorischen Formeln, sondern einzig und allein vom historischen Kräfteverhältnis ableiten. Das totale Verlassen des Bodens der Klassendiktatur wird im Gegenteil eben von der totalen, stalinistischen Umkehrung der revolutionären Methode begleitet. Genauso wie alle anderen, wo auch immer sie auf das Terrain der Demokratie übergehen, verpflichten sich die Ex-Kommunisten der Volks- und Nationaldemokratie und - sowohl innerhalb wie außerhalb Russlands - geben sie in ihrer ganzen Politik die Klassenziele für nationale Interessen auf und zwar auch in der gewöhnlichen banalen Beschreibung dieser Politik als ein reines staatliches Spionagegesetz außerhalb der Grenzen. Wer den demokratischen Weg versucht landet auf dem kapitalistischen. Und so geht es auch den verschwommenen Antistalinisten, die im Namen der in Russland unterdrückten proletarischen Stimme losschreien.

12. Unzählige Zitate von Marx könnten herangezogen werden, um die Unpersönlichkeit der Antriebskomponente der historischen Ereignisse nachzuweisen; ohne diese Unpersönlichkeit wäre deren materialistische Auffassung unvorstellbar.
     Wir wissen dass das große Werk – das „Kapital“ – von Marx nur in seinem ersten Band vollendet wurde. In den Briefen und in den Vorworten erinnert Engels an die harte Arbeit, die erforderlich war, um den zweiten und dritten Band zu ordnen (abgesehen vom vierten, der eine Geschichte der gegnerischen Wirtschaftsdoktrinen darstellt).
     Engels selbst hatte noch einige Zweifel hinsichtlich der Reihenfolge der Kapitel und Abschnitte der beiden Bücher die sich mit dem Gesamtprozess der kapitalistischen Formen befassen, nicht um den Kapitalismus zur Zeit Marx’ zu „beschreiben“, sondern um zu beweisen, dass - wie immer auch noch geschehen mag - die Form des allgemeinen Prozesses nicht zum Gleichgewicht und zur Gleichmäßigkeit (wie ein Dauerstrom, der keine Gezeiten, kein Tief und keine Überschwemmung kennen würde) hinschreitet, sondern zu einer Reihe von sich verschlimmernden Krisen und zum revolutionären Zusammenbruch der untersuchten „allgemeinen Form“.

13. Marx - wie er bereits in der Einleitung von 1859 zur „Kritik der politischen Ökonomie“ (erste Niederschrift des „Kapitals“) hingewiesen hatte – wollte nach der Behandlung der drei grundlegenden Klassen der Gesellschaft (Grundbesitzer, Kapitalisten Proletarier) sich mit drei anderen Themen befassen: „Staat, internationaler Handel und Weltmarkt“. Das Thema Staat wird im Text über die „Pariser Kommune“ von 1871 und in den klassischen Kapiteln von Engels behandelt, von Lenins „Staat und Revolution“ ganz zu schweigen; der „internationale Handel“ im „Imperialismus“ von Lenin. Es handelt sich um die Arbeit einer historischen Schule und nicht um das „Gesamtwerk“ einer Person. Das Thema „Weltmarkt“ lodert heute im Buch der Ereignisse das niemand entziffern kann und in dem ein sterbender Stalin mit seiner schwachen Theorie eines doppelten Marktes zuwinkte, und indem man den Funken des Brandes festgestellt hätte, den der Weltkapitalismus in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts entfachen wird; man hätte ihn feststellen können, wenn die Forscher sich nicht [daran] gemacht hätten sich den Geschicken von „Vaterland und Volk“ und von den pleite gegangenen Ideologien des bürgerlichen Zeitalters zu verpflichten: Friede, Freiheit, Unabhängigkeit, Heiligkeit des Individuums, Rechtmäßigkeit der Wahlentscheidungen!...

14. Nachdem Marx untersucht hatte, wie das Sozialprodukt sich unter den drei Grundklassen teilt und deren Wirtschaftsanteil (weniger genau: deren Einkommen): Grundrente, Profit und Lohn; nachdem er bewiesen hatte, dass die Übertragung der Rente die kapitalistische Ordnung nicht ändern würde, und dass nicht einmal die Übertragung des ganzen Mehrwerts auf den Staat die Grenzen dieser Produktionsweise sprengen würde, (da die Vergeudung lebendiger Arbeit – d.h. die hohe Intensität und Dauer der Arbeit dieselben blieben - wegen des Warencharakters und der Betriebsteilung dieses Systems; dann schließt Marx den strikt ökonomischen Teil wie folgt ab:
     „Was die kapitalistische Produktionsweise speziell auszeichnet, ist die Produktion des Mehrwerts als direkter Zweck und bestimmendes Motiv der Produktion. Das Kapital produziert wesentlich Kapital, und es tut dies nur, soweit es Mehrwert produziert“.
(Allein der Kommunismus wird ein Mehrprodukt produzieren, dass kein Mehrwert und somit kein Kapital ist).
     Die Ursache liegt jedoch keineswegs in der Existenz des Kapitalisten oder der kapitalistischen Klasse, die nicht nur eine reine Folge darstellen, sogar eine nicht notwendige.
     „Während, auf Basis der kapitalistischen Produktion, der Masse der unmittelbaren Produzenten der gesellschaftliche Charakter ihrer Produkte in der Form streng regelnder Autorität und eines als vollständige Hierarchie gegliederten (d.h. bürokratisierten!) gesellschaftlichen Mechanismus des Arbeitsprozesses gegenübertritt – welche Autorität ihren Trägern aber nur als Personifizierung der Arbeitsbedingungen gegenüber der Arbeit, nicht wie in früheren Produktionsformen als politischen oder theokratischen Herrschern zukommt – herrscht unter den Trägern dieser Autorität, den Kapitalisten selbst, die sich nur als Warenbesitzer gegenübertreten, die vollständige Anarchie, innerhalb deren der gesellschaftliche Zusammenhang der Produktion sich nur als übermächtiges Naturgesetz der individuellen Willkür gegenüber geltend macht“.
     Es ist daher notwendig – und dazu genügt es, sich an die überragende Invarianz dieses Textes zu halten – die angeblichen Aktualisierer des schlampigsten bürgerlichen Vorurteils zu überführen, das für jede gesellschaftliche Unterlegenheit die verantwortliche „individuelle Willkür“ oder höchstens die kollektive „Verantwortlichkeit einer Gesellschaftsklasse“ sucht; während in Wirklichkeit alles seit ehedem sehr klar war, und der Kapitalist oder die kapitalistische Klasse hier oder da aufhören könnte, das Kapital zu „personifizieren“ und doch das Kapital bestehen bleiben würde, vor uns, gegen uns, als „gesellschaftlicher Mechanismus“ als „übermächtiges Naturgesetz“ des Produktionsprozesses.

15. So das wunderbare 51.Kapitel, das die „Beschreibung“ der heutigen Ökonomie abschließt, in jeder Seite aber das Gespenst der Revolution „beschwört“. Und das nachfolgende 52. Kapitel, nicht vielmehr als eine Seite lang, jenes, unter dessen abgebrochener Zeile Engels, müde, in Klammern schrieb:
     „Hier bricht das Manuskript ab“.
     Überschrift: „Die Klassen“. Wir sind an der Schwelle der Umkehrung der Praxis, und, nachdem die individuelle Willkür über Bord geworfen war, gehen wir auf die Suche nach dem Träger der Revolution.
     Zunächst steht da: die Gesetze der reinen kapitalistischen Gesellschaft haben wir mit den genannten drei Klassen aufgezeigt. Diese Gesellschaft gibt es so nicht einmal in England (und zwar nicht einmal 1953), da oder woanders, und wird es niemals geben, ebenso wenig wie die zwei einzigen Punkte mit Masse, auf die das Gesetz von Newton den Kosmos beschränkt.
„Die nächst zu beantwortende Frage ist die: Was bildet eine Klasse? [...] Auf den ersten Blick die Dieselbigkeit der Revenuen und Revenuequellen“ [...] „Indes würden von diesem Standpunkt aus z.B. Ärzte und Beamte auch zwei Klassen bilden, denn sie gehören zwei unterschiedenen gesellschaftlichen Gruppen an, bei denen die Revenuen der Mitglieder von jeder der beiden aus derselben Quelle fließen. Dasselbe gälte für die unendliche Zersplitterung der Interessen und Stellungen, worin die Teilung der gesellschaftlichen Arbeit die Arbeiter wie die Kapitalisten und Grundeigentümer – letztere z.B. in Weinbergbesitzer, Äckerbesitzer, Waldbesitzer, Bergwerkbesitzer, Fischereibesitzer – spaltet.“

16. Ohne Autorenrecht auf einen einzigen Satz zu verlangen kann man das entscheidende Kapitel ergänzen, vom Tod unterbrochen – was für Marx willkürlicher persönlicher Zwischenfall war – würde er in solchen Fällen Epikur zitieren, dem er als junger Student seine Doktorarbeit gewidmet hatte. Wie Engels sagte:
     „Alle mit Notwendigkeit eintretenden Ereignisse, tragen ihren Trost in sich“.
Umsonst das Weinen. Es ist nicht die Identität der Revenuequellen die die Klassen bildet, wie es „auf den ersten Blick“ scheint.
     Mit einem einzigen Schlag werden Syndikalismus, Ouvrierismus, Labourismus, Korporativismus, Mazzinianismus, Sozial-Christianismus erledigt, und zwar für immer, ob sie nun der Vergangenheit oder der Zukunft angehören.
     Weit hinaus ging unsere Errungenschaft über das schlaffe Erkennen durch die Ideologen des Geistes und des Individuums, der Gesellschaft und des verfassungsmäßigen liberalen Staates, dass es kollektive Kategorieninteressen gibt, und dass sie nicht ignoriert werden können. Einen ersten Sieg für uns könnte man höchstens darin erblicken, dass es vergeblich war, gegenüber der „sozialen Frage“ – sogar wenn man sie verharmloste – das Gesicht zu verziehen und die Augen zu schließen. Sie hätte die moderne Welt durchdrungen. Aber etwas ist die Welt kapillarisch zu durchdringen und was anderes sie in tausend Stücke zu zerfetzen.
Es führt zu nichts, die Klassen statistisch nach der Einkommensquelle „qualitativ“ auseinanderzuhalten. Idiotischer wäre es noch, sie qualitativ mit Hilfe der „Einkommenspyramide“ auseinanderzuhalten. Das wurde schon seit Jahrhunderten getan. In Rom bedeutete staatliche Volkszählung eben Einkommensskala. Seit Jahrhunderten hat man den Philosophen des Elends mit einfachen Rechenbeispielen entgegengehalten, dass wenn man die Pyramide auf ein gleichmachendes Prisma mit gleich großer Basis verflachte, nur die Bettlergesellschaft entstehen würde.
     Wie soll man qualitativ und quantitativ aus so großer Verlegenheit herauskommen? Denken wir z.B. an ein staatliches Salzbergwerk: der hohe Verwaltungsbeamte bezieht ein Gehalt und wird daher wie der einfachste Lohnarbeiter nach Arbeitszeit bezahlt. Der erste hat aber höhere Einkünfte als viele Fabrikbesitzer und Händler, die vom Profit leben; der zweite viel höhere nicht nur als ein kleiner Parzellenbauer, sondern sogar als ein kleiner Hausbesitzer, der von der Grundrente lebt,...
     Die Klasse wird nicht durch eine wirtschaftliche Rechnung gekennzeichnet sondern durch die historische Position in Bezug auf den großen Kampf, mit dem die neue allgemeine Produktionsform die alte überwindet, niederschlägt und ersetzt. Wenn die These idiotisch ist, wonach die Gesellschaft die bloße Summe von ideellen Individuen darstellt, so ist die andere nicht minder idiotisch, wonach die Klasse die bloße Summe von ökonomischen Individuen darstellt. Individuum, Klasse und Gesellschaft sind keine reinen ökonomischen oder ideellen Kategorien. Sie sind, im beständigen Wechsel von Ort und Zeit, Produkte eines Gesamtprozesses, dessen wirkliche Gesetze die mächtige marxistische Konstruktion wiedergibt.
     Der effektive gesellschaftliche Mechanismus führt und formt Individuen, Klassen und Gesellschaft ohne sie auf jeglicher Ebene zu „befragen“.
     Die Klasse wird durch ihre historische Bahn und Aufgabe definiert und unsere Klasse also durch die Forderung - mühevolles dialektisches Ziel ungeheurer Bestrebungen -, dass sie aus der Statistik von Zahlen und Stufen, und zwar hauptsächlich sie - denn wenig, wenn überhaupt etwas, bedeutet die bereits vor sich gehende Auflösung der feindlichen Klassen - im Nichts verschwinde.
     In ihrer Gesamtheit nimmt sie heute vor unseren Augen unaufhörlich schwankende Varianten an. Sie ist heutzutage für Stalin, für einen kapitalistischen Staat wie Russland für eine Bande von Parlamentariern und Kandidaten, die bei weitem antimarxistischer sind als Turati und Bissolati, Longuet oder Millerand alle zusammen.

17. Es bleibt also nur die Partei, als aktuelles Organ, das die Klasse kennzeichnet, für die Klasse kämpft, zum gegebenen Zeitpunkt für die Klasse regiert und das Ende der Regierungen und der Klassen vorbereitet; unter der Bedingung, dass sie nicht Partei von Hinz und Kunz ist, dass sie sich nicht von der Bewunderung für die Führer ernährt, dass sie wieder – notfalls mit blindem Glauben – die unveränderliche Theorie, die straffe Organisation und die Methode verteidigt, die nicht vom sektiererischen Vorurteil ausgeht, aber weiß, wie man in einer Gesellschaft, die sich zu ihrer typischen Form entwickelt hat (Israel im Jahre 0, Europa bei der Jahrhundertwende), streng die Kriegsformel anwendet: wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

  

  


 

THEORIE UND AKTION

  

1. Angesichts dessen, dass in der gegenwärtigen Situation die revolutionäre Energie auf niedrigste Stufe gesunken ist, hat die Partei die praktische Aufgabe, den geschichtlichen Verlauf des gesamten Kampfes zu untersuchen; es ist falsch, diese Untersuchung als eine schriftstellerische oder intellektuelle Arbeit zu definieren und sie einem wie auch immer gearteten Eintritt in die lebendige Aktion der Massen gegenüberzustellen.

2. Diejenigen, die mit unserem Urteil einverstanden sind, dass die gegenwärtige Politik der Stalinisten völlig gegen die Arbeiterklasse gerichtet und konterrevolutionär ist und dass der Bankrott der III. Internationale noch schlimmer war als derjenige der II. Internationale 1914, können zwischen zwei Positionen wählen: sie können vorgeben, dass man bestimmte Positionen ändern muss, die nicht nur uns gemeinsam waren, sondern auch der Gründungsplattform der Komintern, auch Lenin, auch den Bolschewiki, den Siegern des Oktober; oder sie können, wie wir es tun, bestätigen, dass die einzigen Positionen, die es zu berichtigen gilt, diejenigen sind, die die Kommunistische Linke seit dieser Epoche bekämpfen musste, während all dies, was die Russen in der Folge verraten haben, weiterhin Gültigkeit hat.

3. Der große Fehler, der von der kommunistischen Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg angesichts der Zaghaftigkeit der revolutionären Bewegung im Westen begangen wurde, lässt sich zusammenfassend beschreiben mit den verschiedenen Versuchen, die sie unternahm, um die Entwicklung der Situation auf den Aufstand und die Arbeiterdiktatur hinzulenken und dabei auf gesetzeskonforme, demokratische und ouvrieristische Mittel zurückgriff. Diese falsche Politik, die weit im sogenannten Innern der Arbeiterklasse geführt wurde, gesäumt von Kontakten mit den Sozialverrätern der II. Internationale, musste zu einer neuen Klassenkollaboration mit den kapitalistischen Kräften auf gesellschaftlicher und politischer Ebene führen, national wie weltweit, zu einem neuen Opportunismus, zu erneutem Verrat.

4. Unter dem Vorwand, der internationalen Partei, deren theoretische und organisatorische Grundlage gefestigt war, einen größeren Einfluss zu verschaffen, verstärkte man den Einfluss der Verräter und Feinde, und anstatt die erträumte Mehrheit zu gewinnen, verlor man den soliden historischen Kern der bisherigen Partei. Die zu ziehende Lehre ist, dass man nie mehr die gleichen Maßnahmen unternimmt oder derselben Methode folgt. Das ist nicht wenig.

5. Es war vergeblich, 1946, am Ende des Zweiten Weltkrieges, eine gleichartig fruchtbare Situation zu erwarten wie 1918, weil die konterrevolutionäre Degeneration weitaus schlimmer war und es keine festen proletarischen Kerne gab, die in der Lage gewesen wären, ganz abgesehen von der polizeiartigen Besetzung der besiegten Länder, außerhalb der kriegerischen militärischen, politischen und partisanischen Bündnisse zu bleiben. Die Lage 1946 war offenkundig genauso ungünstig wie jene, die auf die großen Niederlagen des Bundes der Kommunisten 1849 und der I. Internationale 1871 folgten.

6. Eine plötzliche Rückkehr der Massen zu einer wirkungsvollen Organisation einer revolutionären Offensive ist daher undenkbar, das in den nächsten Jahren zu erwartende bestmöglichste Resultat ist das erneute Einbringen der wirklichen proletarischen und kommunistischen Ziele und Forderungen, und die Bekräftigung der Lehre, dass jeder improvisierte Wechsel der Taktik von Situation zu Situation, unter dem Vorwand, in ihnen unvorhergesehene Möglichkeiten auszunutzen, nichts anderes als Defaitismus ist.

7. Der schwachsinnige Aktivismus-Aktualismus, der sein Tun und seine Initiativen den unmittelbaren Gegebenheiten des Tages anpasst, eine Art Parteiexistenzialismus, muss ausgeschlossen und ersetzt werden durch die Wiederherstellung einer festen Brücke, die die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet, wo die Partei die großen Linien ein für allemal festlegt und nicht nur ihren Mitgliedern, sondern vor allem ihren Chefs, jegliche Suche und tendenziöse Entdeckung „neuer Wege“ verbietet.

8. Diese aktivistisch-aktualistische Unsitte, vor allem wenn sie die Wiederherstellung der Theorie und die theoretische Arbeit, die heute so notwendig ist, wie sie es für Lenin 1914-1918 war, unter dem Vorwand diffamiert und aufgibt, dass nur die Aktion und der Kampf zählt, führt letztendlich zur Verneinung der Dialektik und des marxistischen Determinismus, um die Suche nach den seltenen Momenten und Höhepunkten der Geschichte, auf die die kommunistische Bewegung rechnen kann, durch einen wilden Voluntarismus zu ersetzen, der letztendlich nichts anderes ist wie die schlimmste, krasseste Anpassung an die gegenwärtige Lage der Dinge und an ihre jämmerlichen unmittelbaren Perspektiven.

9. Die ganze Herangehensweise dieser gewöhnlichen Praktiker sind nicht auf neue Formen einer originellen politischen Methode zurückzuführen, sie äffen lediglich alte idealistische und antimarxistische Positionen nach, im Stile Benedetto Croces, sie halten die Wechselfälle der Geschichte für auch für wissenschaftliche Gesetze unvorhersehbare Ereignisse und haben „immer recht“ in ihrer Rebellion gegen jede Regel und jede Voraussicht des Zusammenbruchs der menschlichen Gesellschaft.

10. Was also an erste Stelle gesetzt werden muss, gestützt auf die klassischen Texte der Partei, ist die Bestätigung der umfassenden marxistischen Sicht der Geschichte, der Abfolge der Revolutionen bis heute, und das Wesen der Revolution, die sich anbahnt und in dessen Verlauf das moderne Proletariat den Kapitalismus umstürzt und neue gesellschaftliche Formen errichtet: durch die Beschreibung der grundlegenden und grundsätzlichen Forderungen in all ihrer Größe und Kraft, so, wie sie seit mindestens einem Jahrhundert existieren, durch die Liquidierung all der Nichtigkeiten, durch die sie ersetzt werden, auch von Leuten, die nicht dem stalinistischen Sumpf angehören, aber die in der Sorge um ihren demagogischen Erfolg Forderungen volkstümlichen und bürgerlichen Typs als kommunistisch ausgeben.

11. Eine solche Arbeit ist langwierig und schwierig und braucht Jahre, andererseits kann sich das weltweite Kräfteverhältnis nicht vor Jahrzehnten umkehren. Man muss also energisch jegliche stumpfsinnige Hast und fälschlich revolutionären Abenteurergeist zurückweisen und verschmähen, weil dies genau diejenigen kennzeichnet, die nicht in der Lage sind, auf den revolutionären Positionen zu beharren und die, wie es manche geschichtliche Beispiele der Abweichungen gezeigt haben, die richtige Straße für die zweideutigen Sackgassen des kurzfristigen Erfolgs verlassen.

  

  


 

DAS UNMITTELBARE REVOLUTIONÄRE PROGRAMM

  

1. Die riesenhafte Bewegung des proletarischen Klassenkampfes nach dem Ersten Weltkrieg, deren Stärke sich auf weltweiter Ebene niederschlug und sich in Italien in der gefestigten Partei von 1921 konstituierte (1), zeigte klar, dass die zwingende Losung die Eroberung der politischen Macht war, die das Proletariat nicht auf legalem Weg sondern durch den bewaffneten Aufstand erlangt, dass die günstigste Gelegenheit dafür aus der militärischen Niederlage des eigenen Landes herrührt und dass die politische Form, die auf den Sieg folgt, die Diktatur des Proletariats ist. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwandlung ist ein weitergehendes Ziel, deren Vorbedingung die Diktatur ist.

2. Das „Kommunistische Manifest“ stellte fest, dass die aufeinanderfolgenden gesellschaftlichen Maßnahmen, die sich als möglich erweisen oder die man „despotisch“ hervorruft - der Weg zum entwickelten Kommunismus war extrem weit - vom Grad der Entwicklung der Produktivkräfte in dem Land abhängen, in dem das Proletariat den Sieg errungen hat, und von der Geschwindigkeit, mit der sich dieser Sieg auf andere Länder ausweitet. Es zeigte die Maßnahmen auf, die 1848 für die entwickeltsten Länder Europas angemessen waren, und wies darauf hin, dass diese Maßnahmen nicht das Programm des vollständigen Sozialismus darstellten, sondern eine Ansammlung von Übergangsmaßnahmen, die als vorübergehend, unmittelbar, veränderlich und grundsätzlich „widersprüchlich“ betrachtet wurden.

3. Nach und nach (und das war eines der Elemente, die die Anhänger einer nicht festgelegten, sondern stetig, je nach den geschichtlichen Ergebnissen veränderlichen Theorie, täuschte) wurden zahlreiche Maßnahmen, die seinerzeit der proletarischen Revolution auferlegt wurden, von der Bourgeoisie selbst in diesem oder jenem Lande durchgeführt, wie etwa die allgemeine Schulpflicht oder die Errichtung einer Staatsbank etc...
     Dies erlaubte jedoch nicht zu glauben, dass sich die Gesetze und präzisen Voraussichten des Marxismus über den Übergang der kapitalistischen Produktionsweise zum Sozialismus und aller ihrer wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Formen geändert hätten; es bedeutete lediglich, dass die erste nach-revolutionäre Periode verändert und einfacher wurde, also die Übergangswirtschaft, die der niederen Phase des Sozialismus vorausgeht, wie auch der höheren sozialistischen Phase, dem entwickelten Kommunismus.

4. Der klassische Opportunismus bestand darin, glauben zu machen, dass all diese Maßnahmen, von der ersten bis zur letzten, unter dem Druck des Proletariats vom demokratischen bürgerlichen Staat verwirklicht werden können, oder sogar Dank einer legalen Eroberung der Macht. Aber in diesem Fall wären diese verschiedenen „Maßnahmen“ im Interesse des bürgerlichen Machterhalts verwirklicht worden, um den Fall des Kapitalismus abzuwenden, vorausgesetzt, sie wären für ihn verträglich, und wäre dies nicht der Fall, so würde der Staat sie niemals umsetzen.

5. Der gegenwärtige Opportunismus mit seiner Parole der fortschrittlichen Volksdemokratie im Rahmen der Verfassung und des Parlamentarismus erfüllt eine andere, noch schlimmere geschichtliche Aufgabe. Zuerst erweckt er im Proletariat den Glauben, dass einige seiner eigenen Maßnahmen in das Programm eines alle Klassen umfassenden Mehrparteienstaats passen würden, das heißt also, dieser Opportunismus zeigt den gleichen Defätismus gegenüber der proletarischen Klassendiktatur wie die Sozialdemokratie von gestern. In der Folge aber treibt er die organisierten Massen vor allem dazu, für „volksfreundliche und fortschrittliche“ gesellschaftliche Maßnahmen zu kämpfen, welche denen völlig entgegengesetzt sind, die die proletarische Macht seit 1848 und das „Manifest“ stets festgelegt haben.

6. Man kann die Schande einer derartigen Rückentwicklung nicht besser aufzeigen als durch eine Aufzählung der Maßnahmen, die es für den Fall zu verwirklichen gibt, dass die Machteroberung künftig in einem westlichen kapitalistischen Land möglich wird, anstatt der Maßnahmen des „Manifests“ (2) (von vor einem Jahrhundert), und die stets die kennzeichnendsten von damals mit einschließen.

7) Die Liste der Forderungen ist folgende:
     a) „Desinvestition der Kapitalien“, das heißt, Zuweisung eines deutlich geringeren Teils der Produkte für Produktionsmittel statt für Konsumtionsmittel.
     b) „Erhöhung der Produktionskosten“, um bis zum Ersetzen von Lohn, Markt und Geld die Entlohnung, bei geringerer Arbeitszeit, zu verbessern.
     c) „Drastische Verkürzung des Arbeitstags“, mindestens um die Hälfte seiner gegenwärtigen Länge, durch Eingliederung der Arbeitslosen und derjenigen Bevölkerung, die heute mit gesellschaftsfeindlichen Aktivitäten beschäftigt ist.
     d) Verminderung des Produktionsvolumens gemäß eines Plans der „Unterproduktion“, der die Produktion auf das Wesentliche konzentriert, „autoritäre Kontrolle des Konsums“ zur Bekämpfung der Werbungsauswüchse für unnütze, verschwenderische und schädliche Güter, und zwangsweise Abschaffung der Aktivitäten, die lediglich dazu dienen, eine reaktionäre Geisteshaltung zu propagieren.
     e) Rasche „Abschaffung der Schranken des Betriebs“ mit der autoritären Verlagerung, nicht der Menschen, sondern der Arbeitsmittel gemäß dem neuen Konsumtionsplan.
     f) „Rasche Abschaffung der Fürsorge“ merkantilen Typs, die ersetzt werden durch die gesellschaftliche Ernährung der Nicht-Arbeiter auf minimaler Grundlage.
     g) „Anhalten der Bautätigkeit“ von Wohnungen und Arbeitsstätten am Rande der großen Städte (und auch der kleinen), als Maßnahme zur gleichmäßigen Verteilung der Bevölkerung über das gesamte Territorium. Verringerung der Schnelligkeit, des Ausmaßes und der Verdickung des Verkehrs durch Verbot des überflüssigen Verkehrs.
     h) „Offener Kampf gegen die berufliche Spezialisierung“ und die gesellschaftliche Arbeitsteilung durch Abschaffung der Titel und Beamten.
     i) Näher am politischen Bereich: offensichtliche und unmittelbare Maßnahmen, um dem kommunistischen Staat die Schulen, die Presse, alle Mittel der Informationsverbreitung unterzuordnen, wie auch das gesamte Veranstaltungs- und Unterhaltungsnetz.

8) Es ist nicht verwunderlich, dass die Stalinisten und ihresgleichen durch ihre westlichen Parteien heute das vollkommene Gegenteil fordern, nicht nur, was ihre „institutionellen“ Forderungen betrifft, das heißt die legal-politischen, sondern auch ihre „strukturellen“ Forderungen, das heißt auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene. Dies erlaubt ihnen, im Gleichklang mit derjenigen Partei zu marschieren, die den russischen Staat und seine Satelliten anführt und deren Ziel der gesellschaftlichen Veränderung darin besteht, vom Vorkapitalismus zum vollen Kapitalismus überzugehen, mit dem ganzen Gepäck wirtschaftlicher, ideologischer, politischer und gesellschaftlicher Forderungen, die alle am bürgerlichen Zenit ausgerichtet sind, und die nur dem mittelalterlichen und feudalistischen Nadir (3) einen Schrecken einjagen.
     Die westlichen Renegaten sind noch niederträchtiger als ihre östlichen Paten, insofern die feudalistische Gefahr, die in dem sich in Aufruhr befindlichen Asien noch materiell und wohl reell ist, für die mit der hochmütig aufgeblähten kapitalistischen Metropole auf der anderen Seite des Atlantiks in einer Linie stehenden Länder vorgeheuchelt und nicht vorhanden ist, ebenso wenig wie für die unter seiner zivilisierten, liberalen und „völkerbündischen“ Knute stehenden Proletarier.


Quelle: Das Heft, Sul Filo del Tempo, Nr.1: Contributi alla organica ripresentazione storica della teoria rivoluzionaria marxista, Mai 1953